«Nein, Mutter», sagte er. «Nein, nein, nein. Wir haben noch nichts entschieden.»
«Ich habe Jonah versprochen — »
«Jonah ist nicht derjenige, der die Tickets kauft. Jonah hat hier nicht zu bestimmen. Also macht ihr mal eure Pläne, und wir machen unsere, und dann schüttelt sich hoffentlich alles zurecht.»
Seltsam deutlich hörte Gary das missbilligende Schnauben, das aus Enids Nasenlöchern kam. Er hörte das Meeresrauschen ihrer Atmung, und mit einem Schlag wusste er Bescheid.
«Caroline?», sagte er. «Caroline, bist du in der Leitung?»
Das Atmen hörte auf.
«Caroline, belauschst du uns? Bist du in der Leitung?»
Er hörte ein leises Klicken, eine kurze statische Störung.
«Mom, es tut mir Leid — »
Enid: «Was um alles in der Welt — »
Unglaublich! Scheißunglaublich! Gary ließ den Hörer auf seinen Schreibtisch fallen, schloss die Tür auf und rannte den Flur entlang, an einem Kinderzimmer vorbei, in dem Aaron, mit gekräuselter Stirn und schmeichelhaft schräg gehaltenem Kopf, vor seinem Spiegel stand, an der Treppe vorbei, auf der Caleb seinen Katalog umklammerte wie ein Zeuge Jehovas sein Pamphlet, ins Elternschlafzimmer, wo Caroline in ihren verdreckten Kleidern zusammengekrümmt wie ein Embryo auf dem Perserteppich lag und sich ein frostüberzogenes Kältekissen ins Kreuz presste.
«Belauschst du mich?»
Caroline schüttelte matt den Kopf, vielleicht um anzudeuten, dass sie gar nicht genügend Kraft habe, das Telefon neben dem Bett zu erreichen.
«Heißt das nein? Sagst du nein? Du hast nicht mitgehört?»
«Nein, Gary», sagte sie mit Zwergenstimme.
«Ich habe das Klicken gehört, ich habe das Atmen gehört — »
«Nein.»
«Caroline, es gibt drei Anschlüsse für diese Leitung, zwei davon habe ich in meinem Arbeitszimmer, der dritte ist hier. Hallo?»
«Ich habe nicht gelauscht. Ich hab nur den Hörer abgenommen — » Sie atmete durch zusammengebissene Zähne ein. «Um zu sehen, ob die Leitung frei ist. Das ist alles.»
«Und dann hast du dich hingesetzt und zugehört! Du hast gelauscht! Obwohl wir wieder und wieder darüber gesprochen haben, dass wir das niemals tun würden!»
«Gary», sagte sie mit kläglich kleiner Stimme, «ich schwöre, dass ich nicht gelauscht habe. Mein Rücken bringt mich um. Ich konnte den Arm nicht ausstrecken, um wieder aufzulegen. Ich habe den Hörer auf dem Boden liegen lassen. Ich hab nicht gelauscht. Sei lieb, bitte.»
Dass ihr Gesicht wunderschön war und man den gequälten Ausdruck darauf mit Ekstase verwechseln konnte — dass sie Gary, wie sie da zusammengekrümmt und schlammbespritzt und rotwangig und besiegt und mit wilder Mähne auf dem Perserteppich lag, scharfmachte, dass ein Teil von ihm ihren Beteuerungen glaubte und voll Zärtlichkeit für sie war — , all das verstärkte nur sein Gefühl, verraten worden zu sein. Er stürmte über den Flur zurück in sein Arbeitszimmer und knallte die Tür hinter sich zu. «Mutter, hallo, es tut mir Leid.»
Aber die Leitung war tot. Jetzt musste er auf eigene Rechnung in St. Jude anrufen. Durch das Fenster, das auf den Garten hinausging, sah er sonnenbeschienene, muschelschalenrote Regenwolken, aus der Platane aufsteigenden Dunst.
Nun, da nicht mehr sie das Gespräch bezahlte, klang Enid heiterer. Sie fragte Gary, ob er eine Firma namens Axon kenne. «Die sitzen in Schwenksville, Pennsylvania», sagte sie. «Sie wollen Dads Patent kaufen. Hier, ich lese dir mal den Brief vor. Ich bin nicht ganz glücklich damit.»
Bei der CenTrust Bank, wo Gary mittlerweile die Investmentabteilung leitete, war er seit langer Zeit auf große, an der Börse gehandelte Unternehmen spezialisiert und gab sich kaum noch mit kleinen Fischen ab. Der Name Axon sagte ihm nichts. Doch als seine Mutter ihm den Brief vorlas, den Mr. Joseph K. Prager von Bragg Knuter & Speigh geschrieben hatte, meinte er, das Spiel dieser Leute zu durchschauen. Es war klar, dass der Anwalt, der diesen Brief aufgesetzt und ihn an einen alten Mann mit einer Adresse im Mittelwesten geschickt hatte, Alfred nur einen Bruchteil dessen anbot, was das Patent tatsächlich wert war. Gary wusste, wie diese Winkeladvokaten arbeiteten. An Axons Stelle hätte er dasselbe getan.
«Ich finde, wir sollten zehntausend verlangen, nicht fünf-», sagte Enid.
«Wann erlischt das Patent?», fragte Gary.
«In ungefähr sechs Jahren.»
«Sie müssen mit sehr viel Geld rechnen. Sonst würden sie sich um das Patent gar nicht scheren.»
«In dem Brief steht was von ‹früher Testphase› und dass sie ‹nichts garantieren› können.»
«Mutter, das ist es ja. Genau das ist es, was sie einem weismachen wollen. Aber wenn es stimmt, warum befassen sie sich dann jetzt schon damit? Warum warten sie nicht sechs Jahre?»
«Ach so, ich verstehe.»
«Es ist sehr, sehr gut, dass du mir davon erzählt hast, Mutter. Du musst diesen Leuten jetzt zurückschreiben und erst mal eine Lizenzzahlung von 200.000 Dollar verlangen.»
Enid schnappte nach Luft, wie früher auf Familienausflügen, wenn Alfred, um einen Lastwagen zu überholen, in den Gegenverkehr ausgeschert war. «Zweihunderttausend! Guter Gott, Gary — »
«Und eine einprozentige Beteiligung an den Bruttoerträgen ihres Verfahrens. Schreib ihnen, du wärst bereit, deine rechtmäßige Forderung vor Gericht einzuklagen.»
«Aber was ist, wenn sie nein sagen?»
«Glaub mir, diese Leute haben keinerlei Interesse an einer gerichtlichen Auseinandersetzung. Mit der aggressiven Tour kannst du dir in diesem Fall nichts verderben.»
«Na ja, aber es ist Dads Patent, und du weißt ja, wie er darüber denkt.»
«Hol ihn mir mal ans Telefon», sagte Gary.
Seine Eltern ließen sich von jedweder Autorität ins Bockshorn jagen. Wenn Gary sich vergewissern wollte, dass er ihrem Schicksal wirklich entronnen war, wenn er ermessen wollte, wie weit er sich von St. Jude entfernt hatte, dann hielt er sich vor Augen, wie wenig ihn selbst Autoritäten schreckten — einschließlich der seines Vaters.
«Ja», sagte Alfred.
«Dad», sagte er, «ich finde, du solltest diesen Leuten die Hölle heiß machen. Sie sind in einer sehr schwachen Position, und du könntest richtig viel Geld dabei rausschlagen.»
Der alte Mann in St. Jude sagte gar nichts.
«Du willst mir doch nicht erzählen, dass du vorhast, das Angebot anzunehmen», sagte Gary. «Das kommt nämlich überhaupt nicht infrage, Dad. Das steht gar nicht zur Debatte.»
«Ich habe mich entschieden», sagte Alfred. «Was ich tue, geht dich nichts an.»
«O doch, ich habe da auch ein Wörtchen mitzureden.»
«Das hast du nicht, Gary.»
«Ich habe da auch ein Wörtchen mitzureden», wiederholte Gary. Wenn Enid und Alfred irgendwann das Geld ausginge, wären es nicht seine Schwester, die immer knapp bei Kasse war, und sein nichtsnutziger Bruder, sondern er und Caroline, die für ihren Unterhalt aufkommen müssten. Aber er hatte sich gut genug im Griff, um Alfred das nicht vorzubuchstabieren. «Könntest du wenigstens die Güte haben, mir zu sagen, was du zu tun gedenkst?»
«Du hättest die Güte haben können, nicht danach zu fragen», sagte Alfred. «Aber da du nun mal gefragt hast, bitte: Ich gedenke zu nehmen, was sie mir angeboten haben, und die Hälfte davon Orfic Midland zu geben.» Das Universum war mechanistisch: Der Vater sprach, der Sohn reagierte.
«Also wirklich, Dad», sagte Gary mit jener schleppenden, leisen Stimme, die er sich für Situationen vorbehielt, in denen er sehr ärgerlich und sehr sicher war, dass er Recht hatte. «Das kannst du nicht machen.»
«Das kann ich sehr wohl. Und das werde ich auch», sagte Alfred.
«Nein, wirklich, Dad, bitte hör mir zu. Du hast weder rechtlich noch moralisch die geringste Verpflichtung, das Geld mit Orfic Midland zu teilen.»