«Ich bin nicht klinisch depressiv», sagte er zu seinem Spiegelbild im beinahe dunklen Kinderzimmerfenster. Mit einer gewaltigen, ihn bis aufs Mark strapazierenden Willensanstrengung erhob er sich von Aarons Bett und trat an, sich selbst zu beweisen, dass er sehr wohl einen ganz normalen Abend verleben konnte.
Jonah kam mit Prinz Kaspian die dunklen Treppen herauf. «Ich hab das Buch durchgelesen», sagte er.
«Hat's dir gefallen?»
«Ich fand's toll», sagte Jonah. «Ein richtig gutes Kinderbuch. Aslan hat eine Tür in die Luft gemacht, und da sind Leute durchgegangen und verschwunden. Sie haben Narnia verlassen und sind in die wirkliche Welt zurückgekehrt.»
Gary ging in die Hocke. «Umarm mich mal.»
Jonah schlang seine Arme um ihn. Gary konnte die Geschmeidigkeit der kindlichen Gelenke spüren, ihre welpenhafte Biegsamkeit, die Hitze, die Jonahs Kopfhaut und Wangen abstrahlten. Er hätte sich die Kehle durchgeschnitten, wenn der Junge Blut gebraucht hätte; so gesehen, war seine Liebe grenzenlos; und dennoch fragte er sich, ob es nur Liebe war, wonach er sich im Augenblick sehnte, oder ob er nicht auch dabei war, eine Koalition zu bilden. Sich einen taktischen Verbündeten für die eigene Mannschaft zu sichern.
Was diese stagnierende Wirtschaft jetzt dringend braucht, dachte Zentralbankratsmitglied Gary R. Lambert, ist eine gehörige Infusion Bombay-Sapphire-Gin.
In der Küche lümmelten Caroline und Caleb am Tisch, tranken Cola und aßen Kartoffelchips. Caroline hatte die Füße auf einen zweiten Stuhl gelegt und sich Kissen unter die Knie gesteckt.
«Was wollen wir heute Abend essen?», fragte Gary.
Seine Frau und sein mittlerer Sohn wechselten Blicke, als wäre dies genau die Art von Deppenfrage, für die er berühmt war. An der Chipskrümeldichte auf dem Tisch konnte er unschwer erkennen, dass sie auf dem besten Weg waren, sich den Appetit zu verderben.
«Gemischten Grillteller, denke ich», sagte Caroline.
«O ja, Dad, gemischten Grillteller!», sagte Caleb in einem Ton, den man ebenso gut für ironisch wie für begeistert halten konnte.
Gary fragte, ob Fleisch da sei.
Caroline stopfte sich Chips in den Mund und zuckte die Achseln.
Jonah bat um die Erlaubnis, das Grillfeuer zu machen.
Gary, der gerade Eis aus dem Gefrierschrank nahm, gab sie ihm.
Ganz normaler Abend. Ganz normaler Abend.
«Wenn ich die Kamera über dem Tisch anbringe», sagte Caleb, «kriege ich auch einen Teil vom Esszimmer drauf.»
«Dann geht dir aber die ganze Ecke hier flöten», sagte Caroline. «Von der Hintertür aus könntest du Schwenks in beide Richtungen machen.»
Gary verschanzte sich hinter der Tür der Hausbar, während er 120 Milliliter Gin auf Eis goss.
«‹Fünfundachtzig Grad›?», las Caleb aus dem Katalog vor.
«Das heißt, dass man die Kamera beinahe senkrecht nach unten richten kann.»
Immer noch hinter der Schranktür verschanzt, nahm Gary einen ordentlichen lauwarmen Schluck Gin. Dann schloss er die Tür und hielt, für den Fall, dass es jemanden interessierte, was für einen relativ maßvollen Drink er sich eingeschenkt hatte, das Glas in die Höhe.
«Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen», sagte er, «aber Überwachen ist out. Es ist als Hobby ungeeignet.»
«Dad, du hast gesagt, es wär okay, solange ich dabeibleibe.»
«Ich habe gesagt, ich denke noch mal drüber nach.»
Caleb schüttelte heftig den Kopf. «Nein! Hast du nicht! Du hast gesagt, ich kann es machen, wenn ich nicht gleich wieder das Interesse verliere.»
«Genau das hast du gesagt», bestätigte Caroline mit einem unschönen Lächeln.
«Ja, Caroline, ich bezweifle nicht, dass du jedes Wort gehört hast. Aber diese Küche wird nicht überwacht. Caleb, ich erlaube dir nicht, diese Gerätschaften zu kaufen.»
«Dad!»
«Das ist mein letztes Wort.»
«Das tut nichts zur Sache, Caleb», sagte Caroline. «Gary, das tut rein gar nichts zur Sache. Caleb hat nämlich eigenes Geld. Und das kann er ausgeben, wofür er will. Stimmt's, Caleb?»
Unter dem Tisch, so, dass Gary es nicht sehen konnte, gab sie ihm ein Zeichen.
«Genau, ich hab selber Geld gespart!» Calebs Ton erneut ironisch oder begeistert oder, womöglich, beides zugleich.
«Wir unterhalten uns später darüber, Caro», sagte Gary. Wärme und Perversität und Stumpfsinn, jedes für sich eine Folge des Gins, wanderten von irgendwo hinter seinen Ohren an Armen und Rumpf hinunter.
Jonah kam wieder herein, nach Mesquiteholz riechend. Caroline hatte eine weitere große Tüte Kartoffelchips geöffnet.
«Verderbt euch nicht den Appetit, Leute», sagte Gary gezwungen, während er Lebensmittel aus Plastikfächern nahm.
Erneut wechselten Mutter und Sohn Blicke.
«Stimmt», sagte Caleb. «Wir müssen ja noch Platz für den gemischten Grillteller lassen!»
Energisch schnitt Gary Fleisch und spießte Gemüse auf. Jonah deckte den Tisch, und zwar so, wie er es liebte, mit präzisen Abständen zwischen Geschirr und Besteck. Der Regen hatte aufgehört, doch die Holzdielen der Veranda waren noch rutschig, als Gary hinaustrat.
Es hatte als Familienwitz angefangen: Immer bestellt Dad im Restaurant gemischten Grillteller, immer will Dad nur in Restaurants, die gemischten Grillteller auf der Speisekarte haben. Und tatsächlich, so ein Teller mit einem Stück Lamm, einem Stück Schwein, einem Stück Kalb und einem oder zwei mageren, zarten Würstchen moderner Machart, so ein klassischer gemischter Grillteller eben, hatte für Gary etwas grenzenlos Köstliches, etwas unwiderstehlich Luxuriöses. Und weil das so war, hatte er begonnen, zu Hause selbst gemischte Grillteller zuzubereiten, die neben Pizza, Essen vom Chinesen und Pasta-Eintöpfen bald zu einem der Standardgerichte der Familie geworden war. Caroline tat das Ihre dazu, indem sie jeden Samstag schwere, blutfeuchte Tüten mit Fleisch und Wurst anschleppte, und binnen kurzem machte Gary zwei- oder sogar dreimal die Woche gemischten Grillteller, noch dem scheußlichsten Wetter auf der Veranda die Stirn bietend, und er liebte es. Er grillte Rebhuhnbrüste, Hühnerleber, Filets Mignons und mexikanisch gewürzte Truthahnwürstchen. Er grillte Zucchini und rote Paprika. Er grillte Auberginen, gelbe Paprika, Lammkoteletts, italienische Würstchen. Er erfand eine phantastische Bratwurst-Ribeye-Bok-Choy-Kombination. Er liebte es und liebte es und liebte es, und dann, auf einmal, war es ihm gleich.
Die klinische Bezeichnung ANHEDONIE war ihm in einem Buch begegnet, das auf Carolines Nachttisch lag und den Titel Befinden: EINS A! (von Dr. med. Ashley Tralpis) trug. Mit einem Schauder des Wiedererkennens, einem fast bösartigen Ja, ja, hatte er im Lexikon unter ANHEDONIE nachgelesen: «Seelischer Zustand, gekennzeichnet durch die Unfähigkeit, in Situationen, die normalerweise Vergnügen bereiten, auch Vergnügen zu empfinden.» ANHEDONIE war mehr als ein Warnsignal, es wir ein waschechtes Symptom. Eine trockene Fäulnis, die sich von Vergnügen zu Vergnügen ausbreitete, ein Pilz, der Gary die Freude am Luxus und die Lust am Müßiggang verdarb, Wonnen, die so viele Jahre lang seinen Widerstand gegen die kleinkarierte Gesinnung seiner Eltern befeuert hatten.
Letzten März in St. Jude hatte Enid angemerkt, dass Gary für einen Abteilungsleiter bei der Bank, dessen Frau nur halbtags und ehrenamtlich für den Children's Defense Fund arbeitete, ganz schön viel zu kochen scheine. Gary war es nicht schwergefallen, seiner Mutter in die Parade zu fahren; sie sei mit einem Mann verheiratet, der nicht mal ein Ei kochen könne, und offensichtlich neidisch. An seinem Geburtstag aber, nachdem er mit Jonah aus St. Jude zurückgekommen war, das teure Geschenk eines Farbfotolabors bekommen und die Willenskraft aufgebracht hatte, Eine Dunkelkammer, phantastisch, wie schön, wie schön! zu rufen, da hatte Caroline ihm eine Platte mit rohen Garnelen und kruden Schwertfischsteaks zum Grillen gereicht, und er war unsicher geworden, ob seine Mutter nicht doch Recht gehabt hatte. Als er auf der Terrasse, in glühender Hitze, die Garnelen schwarz briet und den Schwertfisch versengte, überkam ihn Müdigkeit. Die Aspekte seines Lebens, die nichts mit Grillen zu tun hatten, erschienen ihm auf einmal wie bloße Echoimpulse einer fremden Existenz mitten im Dauerbeschuss jener Momente, in denen er Mesquiteholz anzündete und auf der Terrasse hin- und herlief, um dem Rauch auszuweichen. Sobald er die Augen schloss, sah er verdrehte Popel von bräunendem Fleisch auf einem Grill aus Chrom und höllischen Kohlen. Die ewige Glut, Glut der Verdammnis. Die sengenden Qualen der zwanghaften Wiederholung. An den Innenwänden des Grills hatte sich ein Florteppich aus schwarzen Phenolfetten gebildet. Der Boden hinter der Garage, auf den er die Asche schüttete, glich einer Mondlandschaft oder dem Hof einer Zementfabrik. Er hatte gemischte Grillteller sehr, sehr satt, und am nächsten Morgen sagte er zu Caroline: «Ich koche zu viel.»