Als er die Hand ausstreckte und ihr übers Haar strich, zuckte ihr ganzer Körper zusammen, als wäre seine Hand eine Defibrillator-Elektrode.
«Was ist denn los?», sagte er.
«Mein Rücken bringt mich um.»
«Vor einer Stunde hast du noch gelacht und dich pudelwohl gefühlt. Und jetzt tut er wieder weh?»
«Die Wirkung des Motrins lässt nach.»
«Die wundersame Wiederkehr der Schmerzen.»
«Du hast noch kein einziges nettes Wort zu mir gesagt, seit mir der Rücken wehtut.»
«Weil du mich anlügst, anstatt zuzugeben, wieso er dir wehtut», sagte Gary.
«Mein Gott. Schon wieder?»
«Zwei Stunden Fußball und Rumgehampel im Regen sind nicht das Problem. Schuld ist das Telefon.»
«Ja», sagte Caroline. «Weil es deiner Mutter um die zehn Cent Leid tut, die es kostet, eine Nachricht auf Band zu sprechen. Sie muss es dreimal klingeln lassen und wieder aufhängen, dreimal klingeln lassen und wieder aufhängen — »
«Dein eigenes Verhalten spielt also gar keine Rolle», sagte Gary. «Nein, meine Mutter ist schuld! Sie ist auf ihrem Besen herbeigeflogen und hat dir in den Rücken getreten, weil sie dir wehtun will!»
«Jedenfalls bin ich fix und fertig mit den Nerven, nachdem das den ganzen Nachmittag so ging mit diesem ewigen Geklingel.»
«Caroline, ich hab dich humpeln sehen, bevor du reingelaufen bist! Ich hab dein Gesicht gesehen. Erzähl mir nicht, du hättest da noch keine Schmerzen gehabt.»
Sie schüttelte den Kopf. «Weißt du, was du bist?»
«Und dann hast du auch noch gelauscht!»
«Weißt du, was du bist?»
«Du lauschst am einzigen freien Telefon im Haus und hast die Frechheit, mir zu erzählen — »
«Gary, du bist depressiv. Ist dir das klar?»
Er lachte. «Ich glaube kaum.»
«Du bist schwermütig und misstrauisch und zwanghaft. Du läufst mit düsterer Miene herum. Du schläfst schlecht. Du scheinst an nichts mehr Freude zu haben.»
«Du lenkst ab», sagte er. «Meine Mutter hat angerufen, weil sie eine völlig vernünftige Frage bezüglich Weihnachten hatte.»
«Vernünftig?» Jetzt lachte Caroline. «Gary, sie ist übergeschnappt, was Weihnachten angeht. Sie ist komplett wahnsinnig.»
«Ach komm, Caroline. Wirklich.»
«Ich meine das ernst!»
«Wirklich. Caroline. Sie werden bald ihr Haus verkaufen, und sie möchten, dass wir alle noch einmal kommen, bevor sie sterben, Caroline, bevor meine Eltern sterben — »
«In dem Punkt waren wir uns doch immer einig. Wir waren uns einig, dass fünf Menschen, die sehr viel zu tun haben, sich nicht zur Hauptreisezeit ins Flugzeug setzen müssen, nur damit zwei Menschen, die nichts mehr zu tun haben, nicht hierher zu kommen brauchen. Und ich habe mich immer gefreut, sie hier — »
«Von wegen.»
«Aber dann ändern sich auf einmal die Regeln!»
«Du hast dich nie gefreut, wenn sie zu Besuch waren. Caroline. Sie sind schon so weit, dass sie nicht mal mehr länger als achtundvierzig Stunden bei uns bleiben wollen.»
«Und das ist meine Schuld?» Sie gestikulierte und grimassierte, ein wenig unheimlich, Richtung Zimmerdecke. «Du begreifst offenbar nicht, Gary, dass wir eine emotional gesunde Familie sind. Ich bin eine liebevolle, leidenschaftliche Mutter. Ich habe drei intelligente, kreative und emotional gesunde Kinder. Wenn du meinst, dass es in diesem Haus ein Problem gibt, solltest du dir lieber mal an die eigene Nase fassen.»
«Ich mache einen vernünftigen Vorschlag», sagte Gary, «und du nennst mich ‹depressiv›.»
«Dir ist dieser Gedanke also noch nie gekommen?»
«Sobald ich von Weihnachten spreche, bin ich ‹depressiv›.»
«Nein, im Ernst, willst du mir weismachen, dir ist in den letzten sechs Monaten noch nie in den Sinn gekommen, dass du krank sein könntest?»
«Es ist extrem feindselig, Caroline, einen anderen als verrückt zu bezeichnen.»
«Nicht, wenn dieser andere möglicherweise ernsthaft krank ist.»
«Ich schlage vor, wir fliegen nach St. Jude», sagte er. «Wenn du nicht wie ein erwachsener Mensch mit mir darüber reden willst, entscheide ich eben selbst.»
«Ach ja?» Caroline machte ein verächtliches Geräusch. «Kann sein, dass Jonah mit dir kommt. Aber versuch mal, Aaron und Caleb ins Flugzeug zu kriegen. Frag sie einfach mal, wo sie Weihnachten lieber sind.»
Frag sie einfach mal, auf wessen Seite sie sind.
«Ich dachte eigentlich, wir wären eine Familie», sagte Gary, «und würden Dinge gemeinsam unternehmen.»
«Du bist doch derjenige, der hier im Alleingang entscheidet.»
«Sag mir, dass das kein Problem ist, an dem unsere Ehe kaputtgeht.»
«Du bist derjenige, der sich verändert hat.»
«Nein, Caroline, also nein, das ist ja lächerlich. Es gibt gute Gründe, dieses Jahr eine einmalige Ausnahme zu machen.»
«Du bist depressiv», sagte sie, «und ich will dich zurückhaben. Ich habe es satt, mit einem deprimierten alten Mann zusammenzuleben.»
Gary seinerseits wollte die Caroline zurückhaben, die sich noch vor wenigen Nächten, als es draußen gewaltig donnerte, im Bett an ihn geklammert hatte. Die Caroline, die auf ihn zugehüpft kam, wenn er den Raum betrat. Die Halbwaise, deren sehnlichster Wunsch es war, auf seiner Seite zu sein.
Aber ihm hatte auch immer gefallen, wie stark sie war, wie anders als alle Lamberts, wie bar jeden Mitgefühls für seine Familie. Über die Jahre hatte er verschiedene ihrer Bemerkungen zu einer Art persönlichem Dekalog zusammengestellt, den Carolinischen Zehn Geboten, aus denen er insgeheim Kraft und Hoffnung schöpfte:
Du bist kein bisschen wie dein Vater.
Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen, dass du dir einen BMW kaufst.
Dein Dad missbraucht die Gefühle deiner Mom.
Ich liebe den Geschmack deines Samens.
Arbeit war die Droge, die das Leben deines Vaters zerstört hat.
Komm, wir kaufen beides!
Deine Familie hat ein krankhaftes Verhältnis zum Essen.
Du bist ein unglaublich gut aussehender Mann.
Denise ist neidisch auf das, was du hast.
Zu leiden bringt überhaupt nichts.
Viele Jahre lang war das sein Credo gewesen — hatte er sich für jeden Ausspruch tief in Carolines Schuld gefühlt — , und jetzt fragte er sich, wie viel davon er für bare Münze nehmen konnte. Vielleicht gar nichts.
«Ich rufe morgen im Reisebüro an», sagte er.
«Und ich rate dir», erwiderte Caroline prompt, «ruf stattdessen lieber Dr. Pierce an. Du brauchst jemanden, mit dem du reden kannst.»
«Ich brauche jemanden, der die Wahrheit sagt.»
«Du willst die Wahrheit hören? Du willst, dass ich dir sage, warum ich nicht mitkomme?» Caroline setzte sich auf und beugte sich in einem merkwürdigen, vom Rückenschmerz diktierten Winkel vor. «Willst du das wirklich wissen?»
Gary fielen die Augen zu. Die Grillen draußen machten ein Geräusch wie endlos durch Rohre rieselndes Wasser. Von weit her drang Hundegebell an sein Ohr, rhythmisch wie das Rucken einer Handsäge.
«Die Wahrheit ist», sagte Caroline, «dass ich achtundvierzig Stunden völlig ausreichend finde. Ich will nicht, dass meine Kinder Weihnachten als eine Zeit in Erinnerung behalten, in der sich alle anbrüllen. Was ja jetzt ziemlich unausweichlich scheint. Deine Mutter kommt mit dreihundertsechzig Tagen schwerer Weihnachtsmanie im Gepäck zur Tür herein, sie hat seit Januar an nichts anderes gedacht, und dann geht's natürlich los: Wo ist denn die kleine österreichische Rentierstatuette — gefällt sie euch nicht? Stellt ihr sie nicht auf? Wo ist sie? Ja, wo ist sie denn? Wo ist die kleine österreichische Rentier Statuette? Sie hat ihren Essenswahn, ihren Geldwahn, ihren Kleiderwahn, sie hat ihr ganzes zehnteiliges Kofferset dabei, was mein Mann ursprünglich einmal ähnlich problematisch fand wie ich, aber jetzt ergreift er, aus heiterem Himmel, ihre Partei. Wir werden das Haus auf den Kopf stellen, um ein dreizehn Dollar teures Stück Souvenirladenkitsch zu suchen, weil es eine sentimentale Bedeutung für deine Mutter hat — »