aber das bescherte ihnen Zwölf- bis Vierzehnstundentage, und jeder Einzelne von ihnen hatte das schwitzige, besessene Gebaren eines Strebers. Gary, auf Carolines Erbschaft weich gebettet, stand es dagegen frei, das Fehlen jeden Ehrgeizes zu kultivieren und als Boss den perfekten, zugleich strengen und zärtlichen Vater zu geben, der er daheim nur halbwegs sein konnte. Von seinen Mitarbeitern verlangte er Ehrlichkeit und außergewöhnliche Leistungen. Im Gegenzug bot er ihnen geduldige Anleitung, absolute Loyalität und die Gewissheit, dass er sie nie für seine eigenen Fehler zur Verantwortung ziehen würde. Wenn seine Large-Cap-Managerin Virginia Ein die Empfehlung aussprach, den Anteil der Energieaktien im Boilerplate-Treuhandportfolio der Bank von sechs auf neun Prozent zu erhöhen und Gary (wie es seinem Temperament entsprach) trotzdem beschloss, den Mischfonds in Ruhe zu lassen, in der Folge jedoch sah, dass der Energiesektor ein paar erstklassige Quartale erlebte, dann setzte er seine breite, ironische Ich-Blödmann-Grimasse auf und entschuldigte sich, vor allen Leuten, bei Ein. Immerhin traf er für jede schlechte Entscheidung zwei oder drei gute, und niemals in der Geschichte des Universums hatte es für den Aktienmarkt bessere sechs Jahre gegeben als die, in denen Gary die Investmentabteilung der CenTrust leitete; nur ein Trottel oder Betrüger hätte versagt. Da also der Erfolg garantiert war, konnte Gary es sich erlauben, seinem Boss Marvin Koster und Kosters Boss Marty Breitenfeld, dem Vorstandsvorsitzenden der CenTrust, ohne jede heilige Scheu gegenüberzutreten. Nie, aber auch niemals katzbuckelte er oder ging ihnen um den Bart. Im Gegenteil, was Stil- und Protokollfragen betraf, waren Koster wie Breitenfeld dazu übergegangen, sich seinem Urteil anzuschließen — Koster, indem er Gary so gut wie um Erlaubnis bat, seine älteste Tochter in der Abington-Friends- statt in der Friends-Select-Schule anzumelden, und Breitenfeld, indem er Gary vor dem Pissoir der Geschäftsleitung abfing, um ihn zu fragen, ob er und Caroline vorhätten, zum Wohltätigkeitsball der Öffentlichen Bibliothek zu gehen, oder ob Gary seine Eintrittskarten an eine Sekretärin weitergegeben habe…
3. ENTSPANNEN SIE SICH-ALLES IST IN IHREM KOPF!
Krauskopf Eberle war wieder in seinem innerschädeligen Schreibtischstuhl aufgetaucht, in jeder Hand ein Plastikmodell eines Elektrolytmoleküls. «Eine bemerkenswerte Eigenschaft von Eisencitrat-/Eisenacetat-Gels», sagte er, «besteht darin, dass die Moleküle unter niedriger Strahlenstimulation bei bestimmten Resonanzfrequenzen spontan polymerisieren können. Noch bemerkenswerter aber ist, dass diese Polymere sich als exzellente Leiter elektrischer Impulse entpuppen.»
Der virtuelle Eberle schaute mit wohlwollendem Lächeln zu, wie sich durch den blutigen, wogenden Schlamassel um ihn herum eifrig Wellenformen schlängelten. Und als wären diese Wellen die ersten Takte eines Menuetts oder Reigens, fanden sich alle Eisenmoleküle zu Paaren zusammen und bildeten lange Zweierreihen.
«Diese flüchtigen, leitenden Mikrokanäle», sagte Eberle, «machen das bislang Undenkbare denkbar: die direkte, quasi in Echtzeit herstellbare digital-chemische Abbildung.»
«Aber das ist ja toll», flüsterte Denise Gary zu. «Das ist es, was Dad immer wollte.»
«Was, sich ein Vermögen durch die Lappen gehen lassen?»
«Anderen Menschen helfen», sagte Denise. «Etwas bewirken.»
Gary hätte gern angemerkt, dass der alte Mann ja bei seiner Frau hätte anfangen können, wenn ihm wirklich so danach gewesen wäre, anderen zu helfen. Aber Denise hatte eine seltsame und unerschütterliche Meinung von Alfred. Sich auf Diskussionen mit ihr einzulassen hatte keinen Zweck.
4. DIE REICHEN WERDEN NOCH REICHER!
«Ja, ein müßiger Winkel des Gehirns könnte aller Laster Anfang sein», sagte der Sprecher, «doch das Korrektal-Verfahren ignoriert jede müßige Nervenbahn. Überall dort hingegen, wo Aktivität herrscht, ist Korrektal zur Stelle, um diese zu verstärken! Um den Reichen zu helfen, noch reicher zu werden!»
Im Ballsaal B erhoben sich Gelächter und Applaus und beifälliges Rufen. Gary spürte, dass sein grinsender, klatschender Nachbar zur Linken, Mr. Zwölftausend-Exxon- Aktien, in seine Richtung blickte. Vielleicht wunderte er sich, warum Gary nicht klatschte. Vielleicht war er auch eingeschüchtert von Garys lässiger Eleganz.
Wenn man kein Streber, kein schwitziger Aufsteiger sein wollte, fand Gary, dann musste man sich unbedingt so kleiden, als hätte man es in Wahrheit gar nicht nötig zu arbeiten: als wäre man ein feiner Herr, dem es nur zufällig Freude bereitete, ins Büro zu gehen und anderen zu helfen. Nach dem Motto: Adel verpflichtet.
Heute trug er eine kaperngrüne, halbseidene Sportjacke, ein naturfarbenes Button-down-Leinenhemd und schwarze Anzughosen ohne Bügelfalte; sein Handy war ausgeschaltet, taub für alle Anrufe. Er lehnte sich, mit dem Stuhl kippelnd, nach hinten und suchte mit den Augen den Ballsaal ab, um sicher zu sein, dass er auch wirklich der einzige Mann ohne Krawatte war, doch der Kontrast zwischen Selbst und Masse ließ heute einiges zu wünschen übrig. Noch vor wenigen Jahren wäre der Raum ein Dschungel aus blauen Nadelstreifen, schlitzlosen Mafiosi-Sakkos, zweifarbigen City-Hemden und quastengeschmückten Slippern gewesen. Jetzt, in den späten Reifejahren des langen, langen Aufschwungs, kauften sogar junge Bauerntölpel aus New Jersey maßgeschneiderte italienische Anzüge und teure Brillengestelle. So viel Geld hatte das System überschwemmt, dass Sechsundzwanzigjährige, die
Andrew Wyeth für eine Möbelfabrik und Winslow Homer für eine Comicfigur hielten, in der Lage waren, sich zu kleiden wie die Hollywood-Aristokratie…
Ach, Misanthropie und Bitterkeit. Gary hätte es so gern genossen, ein wohlhabender, vornehmer Privatier zu sein, doch das Land machte es einem nicht leicht. Millionen frisch gekürter amerikanischer Millionäre überall um ihn herum waren von dem identischen Wunsch getrieben, sich für außergewöhnlich zu halten — die perfekte viktorianische Villa zu kaufen, auf Skiern die unberührte Piste hinabzusausen, den Küchenchef persönlich zu kennen, den Strand zu finden, auf dem es keine Fußspuren gab. Hinzu kamen weitere zig Millionen junger Amerikaner, die zwar kein Geld hatten, aber nach vollendeter Coolness strebten. Dabei war die traurige Wahrheit nun einmal die, dass nicht jeder außergewöhnlich und nicht jeder vollendet cool sein konnte; denn wer wäre dann noch gewöhnlich? Wer übernähme die undankbare Aufgabe, vergleichsweise uncool durchs Leben zu gehen?
Nun, immerhin gab es ja noch die Einwohnerschaft des amerikanischen Herzlands: all die Familienkutschenfahrer aus St. Jude mit ihren dreißig, vierzig Pfund Übergewicht und ihren famosen pastellfarbenen Jogginganzügen, ihren Anti-Abtreibungs-Aufklebern und preußischen Haarschnitten. Doch Gary hatte in den letzten Jahren, mit geotektonisch wachsender Sorge, beobachtet, dass der Strom derer, die es aus dem Mittelwesten an die cooleren Küsten zog, nicht verebbte. (Sicher, er war selbst Teil dieses Exodus, aber er hatte die Flucht schon früh angetreten, und wer zuerst kam, der mahlte auch, mit Verlaub, zuerst.) Gleichzeitig versuchten alle Restaurants in St. Jude plötzlich, europäische Fahrt aufzunehmen (plötzlich kannte jede Putzfrau sonnengetrocknete Tomaten, plötzlich wussten Schweinezüchter von Créme brûlée), die Kunden im Einkaufszentrum unweit seines Elternhauses liefen mit einer Anspruchshaltung durch die Gegend, die der seinen entmutigend ähnlich war, und die elektronischen Konsumgüter, die es in St. Jude zu kaufen gab, waren keinen Deut weniger leistungsstark und cool als die in Chestnut Hill. Gary wünschte, jede weitere Abwanderung an die Küsten könnte unterbunden werden und man fände für alle Mittelwestler Anreize, wieder pappiges Essen zu sich zu nehmen, Kleidung ohne jeden Schick zu tragen und Brettspiele zu spielen, nur damit eine nationale strategische Reserve der Ahnungslosigkeit bestehen blieb, eine Wildnis des Geschmacks, die es privilegierten Menschen wie ihm erlaubten, sich für alle Ewigkeit vollendet kultiviert zu fühlen. Aber genug, ermahnte er sich. Ein allzu unerbittlicher Drang nach Besonderheit, der Wunsch, kraft eigener Überlegenheit unumschränkt zu herrschen, war ein weiteres Warnsignal der klinischen D.