«Dean und Trish haben einen Whirlpool, eine Dusche und eine Badewanne, alles separat», fuhr Enid fort. «Und zwei Waschbecken, eins für ihn, eins für sie.»
«Tut mir Leid, Chip», sagte Julia.
Er hob eine Hand, um sie aufzuhalten. «Sobald Denise hier ist, essen wir», kündigte er seinen Eltern an. «Ein ganz einfaches Mittagessen. Macht es euch schon mal bequem.»
«War nett, Sie beide kennenzulernen», rief Julia Enid und
Alfred zu. Dann sagte sie, leiser, zu Chip: «Denise ist gleich da. Du wirst schon zurechtkommen.»
Sie öffnete die Tür.
«Mom, Dad», sagte Chip, «nur eine Sekunde.»
Er folgte Julia, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
«Das ist ganz schlechtes Timing», sagte er. «Ganz, ganz schlecht.»
Julia schüttelte sich die Haare von den Schläfen. «Ich bin froh, dass ich zum ersten Mal in einer Beziehung das tue, was für mich gut ist.»
«Na prima. Das ist ein großer Schritt nach vorn.» Chip gab sich Mühe zu lächeln. «Aber was ist mit dem Drehbuch? Liest Eden es?»
«Ich denke, irgendwann dieses Wochenende vielleicht.»
«Und du?»
«Ich hab's gelesen, mhm.» Julia schaute weg. «Größtenteils.»
«Meine Idee war», sagte Chip, «dass da gleich zu Beginn ein ‹Berg› ist, über den der Zuschauer erst mal rüber muss. Etwas Störendes an den Anfang setzen: Das ist ein klassisches Verfahren der Moderne. Gegen Ende wird's dann noch richtig spannend.»
Julia drehte sich ohne eine Antwort zum Fahrstuhl um.
«Hast du das Ende schon gelesen?»
«Ach, Chip», sagte sie unglücklich, «dein Drehbuch beginnt mit einem sechs Seiten langen Vortrag über Phallusängste im Drama der Tudorzeit!»
Das war ihm bewusst. Seit Wochen war er fast jede Nacht vor Tau und Tag aufgewacht, der Magen in Aufruhr, die Zähne aufeinander gepresst, und hatte mit der albtraumhaften Gewissheit gerungen, dass ein längerer akademischer Monolog über das Drama der Tudorzeit im ersten Akt eines kommerziellen Drehbuchs nichts zu suchen hatte. Oft brauchte er Stunden — musste erst aufstehen, umherlaufen, Merlot oder Pinot Grigio trinken — , bis er seine Überzeugung, dass ein theorielastiger Anfangsmonolog nicht nur kein Fehler, sondern das größte Plus des Drehbuchs war, zurückgewonnen hatte; doch jetzt genügte ein einziger Blick in Julias Gesicht, und er wusste: Er hatte sich getäuscht.
In aufrichtiger Zustimmung zu ihrer Kritik nickte er, öffnete die Wohnungstür und rief: «Eine Sekunde, Mom, Dad. Nur eine Sekunde.» Doch kaum hatte er die Tür erneut zugezogen, fielen ihm die alten Argumente wieder ein. «Aber weißt du», sagte er, «die ganze Geschichte ist in diesem Monolog vorgezeichnet. In komprimierter Form enthält er alle Themen: Geschlecht, Macht, Identität, Wahrhaftigkeit, und der springende Punkt ist… warte. Warte doch. Julia?»
Mit verlegen gesenktem Kopf, so, als habe sie irgendwie gehofft, er würde ihr Fortgehen nicht bemerken, wandte sich Julia vom Fahrstuhl ab und sah ihn an.
«Der springende Punkt ist doch», sagte er, «dass das Mädchen in der ersten Reihe des Seminarraums sitzt und sich den Vortrag anhört. Das ist ein essenzielles Bild. Die Tatsache, dass er den Diskurs bestimmt — »
«Und es ist ziemlich gruselig», sagte Julia, «wie du ständig von ihren Brüsten redest.»
Auch das traf zu. Dass es zutraf, kam Chip allerdings unfair, ja grausam vor, weil er ohne den Reiz, sich die Brüste seiner jungen Hauptdarstellerin auszumalen, überhaupt nicht den Mumm gehabt hätte, das Drehbuch zu schreiben. «Wahrscheinlich hast du recht», sagte er. «Obwohl ein Teil der Körperlichkeit auch Absicht ist. Das ist ja die Ironie, verstehst du, dass sie sich von seinem Verstand angezogen fühlt und er sich von ihren — »
«Aber für eine Frau», sagte Julia halsstarrig, «ist das beim Lesen 'n bisschen wie im Supermarkt vor der Geflügelvitrine. Brust, Brust, Brust, Schenkel, Bein.»
«Ich kann ja ein paar von diesen Stellen streichen», sagte Chip leise. «Ich kann auch den Eingangsvortrag kürzen. Aber ich möchte, dass da ein ‹Berg› ist — »
«Jaja, über den der Zuschauer erst rüber muss. Klasse Idee.» «Bitte komm rein und iss mit uns. Bitte. Julia?» Die Fahrstuhltür hatte sich auf Julias Knopfdruck hin geöffnet.
«Ich finde es für eine gewisse Person ein ganz klein wenig beleidigend.»
«Aber das bist doch nicht du. Es basiert nicht mal auf dir.» «Ach so, toll. Es sind die Brüste einer anderen.» «Herrje. Bitte. Eine Sekunde.» Chip drehte sich zu seiner Wohnungstür um, öffnete sie und erschrak, als er diesmal Auge in Auge seinem Vater gegenüberstand. Alfreds große Hände zitterten heftig.
«Dad, hallo, nur noch eine Minute.»
«Chip», sagte Alfred, «bitte sie zu bleiben! Sag ihr, wir möchten, dass sie bleibt!»
Chip nickte und machte dem alten Mann die Tür vor der Nase zu, in den wenigen Sekunden aber, in denen er abgelenkt gewesen war, hatte der Fahrstuhl Julia verschluckt. Chip drückte auf den Knopf, um ihn wieder nach oben zu rufen, und als das nichts nützte, riss er die Feuerschutztür auf und rannte die gewundene Lieferantentreppe hinunter. Nach einer Reihe brillanter Vorlesungen, in denen er das uneingeschränkte Verfolgen des Lustprinzips als Strategie zum Sturz der Bürokratie des Rationalismus gefeiert hat, wird BILL QUAINTENCE, ein gut aussehender junger Professor im Fachbereich Text-Artefakte, von seiner schönen Studentin MONA, die ihn anhimmelt, verführt. Ihre wild-erotische Affäre hat allerdings kaum begonnen, als Bills von ihm getrennt lebende Ehefrau HILLAIRE ihnen auf die Schliche kommt. In einer spannungsgeladenen Auseinandersetzung, die das Aufeinanderprallen der Therapeutischen und der Transgressiven Weltsicht symbolisiert, ringen Bill und Hillaire um die Seele der jungen Mona, die auf zerknitterten Laken nackt zwischen ihnen liegt. Hillaire gelingt es, Mona mit ihrer kryptisch-repressiven Rhetorik zu verführen, woraufhin Mona Bill öffentlich anprangert. Bill verliert seinen Job, entdeckt jedoch bald darauf E-Mail-Dokumente, die beweisen, dass Hillaire Mona Geld zugesteckt hat, um seine Karriere zu zerstören. Auf dem Weg zu seinem Anwalt, dem er eine Diskette mit dem belastenden Beweismaterial geben will, wird sein Wagen von der Straße abgedrängt und stürzt in den tosenden Fluss D — ; die Diskette treibt aus dem gesunkenen Auto heraus und wird von den endlosen, unbezähmbaren Strömungen ins tosende, erotisch-chaotische Meer getragen. Der Unfall wird als Selbstmord eingestuft, und in der letzten Szene des Films wird Hillaire als Bills Nachfolgerin in die Fakultät aufgenommen und hält vor einer Gruppe von Studenten, zu der auch ihre diabolische lesbische Geliebte Mona gehört, eine Vorlesung über die Übel des uneingeschränkten Lustprinzips: So weit das eine Seite füllende Exposé, das Chip mithilfe einiger Handbücher, die er sich gekauft hatte, zustande gebracht und eines Wintermorgens an eine in Manhattan ansässige Filmproduzentin gefaxt hatte, die Eden Procuro hieß. Fünf Minuten später hatte sein Telefon geklingelt, und die kühle, ausdruckslose Stimme einer jungen Frau sagte: «Einen Moment bitte, Eden Procuro möchte Sie sprechen», die kurz darauf selbst in den Hörer schrie: «Das ist zauberhaft, zauberhaft, zauberhaft, zauberhaft, zauberhaft» Inzwischen waren jedoch anderthalb Jahre vergangen. Inzwischen war aus dem eine Seite füllenden Exposé ein 124 Seiten starkes Drehbuch mit dem Titel «Akademische Würden» geworden, und Julia Vrais, die schokoladenbraunhaarige Frau, der jene kühle, ausdruckslose Persönliche-Assistentinnen-Stimme gehörte, lief ihm gerade davon, und alles, was er zu sehen oder woran er zu denken vermochte, während er die Treppen hinunterstürmte, um sie aufzuhalten — wobei er die Füße seitwärts setzte, damit er immer drei oder gar vier Stufen auf einmal nehmen konnte, und bei jeder Landung die Treppenhausspindel packte, um mit einem Ruck seine Flugrichtung umzukehren — , war ein unseliges Stichwort in seiner nahezu fotografisch genauen geistigen Konkordanz der besagten 124 Seiten: