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«Weißt du», erklärte er, «Eden will das Drehbuch irgendwann heute Nachmittag lesen, und finanziell gesehen ist es natürlich entscheidend, dass wir — »

«Du kannst jetzt nicht weg», sagte Denise.

«Es dauert nur eine Stunde», sagte Chip, «höchstens anderthalb.»

«Ist Julia hier?»

«Nein, sie ist wieder gegangen. Sie hat kurz Hallo gesagt und ist dann gegangen.»

«Habt ihr etwa Schluss gemacht?»

«Ich weiß nicht. Sie nimmt neuerdings irgend so ein Medikament, und ich bin nicht mal sicher — »

«Moment mal. Moment. Willst du jetzt zu Eden, oder willst du hinter Julia her?»

Chip berührte den Niet in seinem linken Ohr. «Neunzig Prozent zu Eden.»

«Ach, Chip.»

«Nein, hör zu», sagte er, «sie spricht von ‹Gesundheit›, als hätte das Wort eine absolute, zeitlose Bedeutung oder so.»

«Meinst du jetzt Julia?»

«Seit drei Monaten schluckt sie irgendwelche Pillen, die sie unglaublich abstumpfen lassen, und diese Abgestumpftheit nennt sie dann geistige Gesundheit! Genauso gut könnte man Blindheit als Hellsicht definieren: ‹Jetzt, da ich blind bin, sehe ich, dass es nichts zu sehen gibt.›»

Denise seufzte und ließ ihren Blumenstrauß auf den Boden hängen. «Und was soll das heißen? Willst du hinter ihr herfahren und ihr die Medizin wegnehmen?»

«Es soll heißen, dass das Gesamtsystem unserer Kultur fehlerhaft ist», sagte Chip. «Es soll heißen, dass die Bürokratie sich das Recht anmaßt, bestimmte Geisteszustände als ‹krank› zu definieren. Mangelnde Lust, Geld auszugeben, wird so zu einem Krankheitssymptom, das eine teure medikamentöse Behandlung erfordert, die ihrerseits die Libido zerstört, mit anderen Worten: die Lust auf das einzige Vergnügen im Leben, das es umsonst gibt, sodass die betreffende Person für kompensatorische Vergnügungen noch mehr Geld ausgeben muss. So betrachtet ist geistige ‹Gesundheit› geradezu definiert als die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme an der Konsumgesellschaft. Indem du dich in die Medizin einkaufst, kaufst du dich ins Kaufen ein. Und es soll heißen, dass ich persönlich gerade dabei bin, den Kampf mit einer kommerzialisierten, medizinisierten, totalitaristischen Moderne zu verlieren.»

Denise schloss ein Auge und öffnete das andere ganz weit. Ihr offenes Auge glich beinahe schwarzem, auf weißem Porzellan perlendem Balsamico-Essig. «Wenn ich einräume, dass dies durchaus interessante Themen sind», sagte sie, «hörst du dann auf, darüber zu reden, und kommst mit rauf?»

Chip schüttelte den Kopf. «Im Kühlschrank ist pochierter Lachs. Und Crème fraîche mit Sauerampfer. Und ein Salat aus grünen Bohnen und Haselnüssen. Den Wein, das Baguette und die Butter wirst du schon finden. Es ist gute frische Butter aus Vermont.»

«Hast du mal dran gedacht, dass Dad krank ist?»

«Es dauert bloß eine Stunde. Höchstens anderthalb.»

«Ich habe dich gefragt, ob du mal dran gedacht hast, dass Dad krank ist.»

Chip sah seinen Vater zitternd und flehend im Türrahmen stehen. Um dieses Bild auszublenden, versuchte er, sich vorzustellen, wie er mit Julia oder dem himmelblauhaarigen Mädchen oder Ruthie schlief, mit irgendeiner, doch alles, was er vor seinem inneren Auge heraufbeschwören konnte, war eine rachsüchtige, furienartige Horde abgetrennter Brüste.

«Je schneller ich zu Eden komme und meine Korrekturen anbringe», sagte er, «umso eher bin ich zurück. Wenn du mir wirklich helfen willst.»

Ein freies Taxi kam die Straße herunter. Chip beging den Fehler hinzusehen, was Denise augenblicklich missverstand.

«Ich kann dir nicht noch mehr Geld geben», sagte sie.

Er zuckte zurück, als hätte sie ihn angespuckt. «Herrgott, Denise — »

«Ich würd's ja gern tun, aber es geht nicht.»

«Ich hab dich doch gar nicht um Geld gebeten!»

«Weil ich nicht weiß, wo das enden soll.»

Er drehte sich auf dem Absatz um und lief, lächelnd vor Wut, im strömenden Regen Richtung University Place. Er befand sich knöcheltief in einem brodelnden grauen, bürgersteigförmigen See. Er hielt Denise' Schirm fest umklammert, klappte ihn nicht auf, und dennoch schien es ihm eine Gemeinheit, ja schien es nicht seine Schuld zu sein, dass er bis auf die Knochen nass wurde.

Bis vor Kurzem und ohne groß darüber nachzudenken, hatte Chip geglaubt, man könne in Amerika erfolgreich sein, auch wenn man nicht viel Geld verdiente. Er war immer ein guter Schüler gewesen, und da sich schon früh gezeigt hatte, dass er für nahezu jede ökonomische Aktivität ungeeignet war (abgesehen vom Kaufen: Das konnte er gut), hatte er beschlossen, sein Leben den geistigen Dingen zu widmen.

Seit Alfred einmal in sanftem Ton, aber mit Nachdruck angemerkt hatte, er sehe nicht, wozu Literaturwissenschaften gut sein sollten, und Enid in ihren blumigen, zweiwöchentlichen Briefen, dank deren sie viele Dollars an fernmündlichen Gesprächen sparte, immer wieder darauf zurückgekommen war, dass Chip seine Promotion in den Geisteswissenschaften, die doch «zu gar nichts nütze» sei, an den Nagel hängen solle («Ich sehe deine alten Wissenschaftstrophäen vor mir», schrieb sie, «und male mir aus, was ein fähiger junger Mann wie du der Gesellschaft als Arzt alles zu geben hätte, denn weißt du, Dad und ich hatten immer gehofft, wir hätten Kinder großgezogen, die auch an andere denken, nicht nur an sich selbst»), seither war Chip, der seinen Eltern beweisen wollte, dass sie sich irrten, ganz entschieden zu harter Arbeit motiviert gewesen. Also war er wesentlich früher aufgestanden als seine Kommilitonen, die bis zwölf oder eins ihren Gauloise-Kater ausschliefen, und hatte jene Preise, Beihilfen und Stipendien angehäuft, die im akademischen Königreich die gültige Währung waren.

Sein einziger Misserfolg in den ersten fünfzehn Jahren seines Erwachsenenlebens stammte aus zweiter Hand. Tori Timmelman, seine Freundin im College und noch lange danach, war eine Feministin, deren Empörung über das patriarchalische System der akademischen Wertschätzung und dessen phallometrischen Leistungsmaßstäbe mit der Zeit solche Formen annahm, dass sie sich am Ende weigerte (oder außerstande war), ihre Dissertation zum Abschluss zu bringen. Chip war damit groß geworden, seinen Vater darüber predigen zu hören, dass es Männerarbeit und Frauenarbeit gebe und der Unterschied zwischen beidem unbedingt gewahrt werden müsse; im Geist der Korrektur dieser Kindheitserfahrung blieb er fast ein Jahrzehnt mit Tori zusammen. In der kleinen Wohnung, die sie sich teilten, kümmerte er sich um die gesamte Wäsche und weitgehend auch ums Putzen, Kochen und Katzeversorgen. Er las für Tori die Sekundärliteratur und half ihr ein ums andere Mal, Kapitel ihrer Doktorarbeit, die sie vor lauter Empörung nicht zu schreiben in der Lage war, zu skizzieren. Erst als das D — College ihm einen Fünf Jahresvertrag mit Aussicht auf Festanstellung anbot (während Tori, noch immer ohne akademischen Grad, einen auf zwei Jahre begrenzten Job an einer landwirtschaftlichen Hochschule in Texas annahm), war sein Vorrat an männlichem Schuldbewusstsein endgültig aufgezehrt, und er ging seiner Wege.

So kam er nach D — , ein qualifizierter Dreiunddreißigjähriger, der auf eine lange Publikationsliste verweisen konnte und dem der Dekan, Jim Leviton, praktisch eine Anstellung auf Lebenszeit versprochen hatte. Noch bevor das erste Semester zu Ende war, schlief er mit der jungen Historikerin Ruthie Hamilton, hatte sich im Tennis mit Leviton zusammengetan und diesem den Fakultätsmeistertitel im Doppel beschert, der ihm zwanzig Jahre in Folge durch die Lappen gegangen war.

Das D — College, angeblich elitär, doch höchst mittelmäßig ausgestattet, war auf Studenten angewiesen, deren Eltern die vollen Studiengebühren zahlen konnten. Um solche Studenten anzulocken, hatte das College ein 30 Millionen Dollar teures Freizeitzentrum, drei Espresso-Bars und zwei klotzige «Residenzen» gebaut, die weniger Studentenwohnheimen als Gestalt gewordenen Vorwegnahmen jener Hotels ähnelten, in denen die jungen Leute in ihrer gut dotierten Zukunft absteigen würden. Massenhaft Ledersofas gab es dort und unzählige Computer, damit sichergestellt war, dass kein Student, der sich zu immatrikulieren erwog, und auch kein Vater oder keine Mutter bei einem Besuch je einen Raum betrat, und sei es der Speisesaal oder der Sportgeräteschuppen, in dem nicht mindestens eine freie Tastatur zu entdecken war.