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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2012
ISBN 978-3-492-95432-7
© Piper Verlag GmbH 2010
Umschlagkonzept: semper smile, München
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Umschlagabbildung: Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von shutterstock; Himmelsscheibe von Nebra (Fotograf Juraj Lipták); copyright Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt
Datenkonvertierung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
TEIL 1
Kapitel 1
Arri war so gut wie tot. Und das wusste sie auch.
Das Gemurmel der Männer, die über ihr Schicksal bestimmten, das Plätschern der Wellen, die die Pfähle der Holzkonstruktion umspielten, auf der ihre Hütten ruhten, das leise Seufzen und Knarren des Einbaums, auf den man den Herrscher der Raker für die letzte Reise gebettet hatte - all dies vermischte sich auf eine entsetzliche Weise mit dem fernen Totengesang der Klageweiber. Sie versuchte das Gewicht auf die rechte Seite zu verlagern, um ihre schmerzhaft verkrampften Nackenmuskeln zu entlasten. Aber das ließen die Fesseln nicht zu, mit denen man sie hier festgezurrt hatte. Trotz des Stechens im Nacken verdrehte sie so weit wie möglich den Kopf, um zu dem schwarzen Einbaum hinabzublicken, den Taru im zerrissenen Widerschein der nächtlichen Uferfeuer an einem Pfahl angebunden hatte.
Niemals würde sie den Blick vergessen, mit dem er sie gemustert hatte, bevor er sich von ihr abwandte. Dieses Gesicht, das dem seines Vaters so sehr ähnelte: schmal war es, mit einem kraftvollen Kinn und energischen Wangenknochen; dann der nackte Oberkörper, auf dem Wassertropfen perlten, wie sie es auch an Dragosz so geliebt hatte, die wie zum Schlag erhobene rechte Faust - er war in diesem Augenblick so sehr das Abbild seines Vaters gewesen, dass sie hätte schreien können.
Doch dann dieser Blick. Der Hass. Die Abscheu. Das Verlangen, die junge Frau seines Vaters an den Haaren zu packen und ins Wasser hinabzuziehen, sie zu ersticken, zu vernichten, sie aus ... zu ... löschen. Es lag ein Versprechen in diesem Blick, und es bestand nur aus einer einzigen Drohung: Bald, Arianrhod. Schon sehr bald werde ich kommen und dich töten!
»Taru!«
Arri zuckte bei der Erinnerung an den Ausruf zusammen, mit dem Abdurezak den Jungen zur Räson gebracht hatte. Sie schämte sich ihrer Gefühle. Sie schämte sich auch dafür, dass sie zu schwach gewesen war, das Unglück aufzuhalten. Letztlich schämte sie sich sogar, überhaupt geboren worden zu sein.
Und jetzt saß sie hier allein mit ihrer Scham und ihrem Entsetzen, gefesselt, jedoch weniger durch die Stricke, die man ihr angelegt hatte, als durch ihre eigenen Gedanken. Nur ganz langsam begriff sie, dass ein neuer Tag begann, der erste Tag ohne Dragosz, also ohne den Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens hatte verbringen wollen - und sie begriff, dass dieser Tag für die Welt um sie herum nicht anders beginnen würde als schon unzählige Tage zuvor.
Sie öffnete den Mund zu einem verzweifelten Schrei - und schloss ihn dann wieder, ohne dass auch nur ein einziger Laut über ihre Lippen gekommen wäre. Alles war so sinnlos geworden. Sie und die Welt - das passte nun nicht mehr zusammen.
Wie der kalte Atem des Todes hingen zerrissene Nebelschwaden über dem Wasser, durchdrungen vom schwachen Rosarot der Morgenröte. Auch dieser Morgen würde sich durch nichts davon abhalten lassen, so zu werden, wie es ihm bestimmt war: schön, heiß und strahlend. Im Licht der gemächlich aufgehenden Sonne drängten sich Arri Einzelheiten auf, die die anscheinend endlos währende Nacht verborgen gehalten hatte. Sie wollte nichts sehen, wollte auch gar nicht zu dem Einbaum hinüberblicken, der sanft auf den Wellen schaukelte. Mit aller Gewalt zwang sie ihren Blick darum zu Boden. Sie hatte dieses Boot schon immer gehasst: weil es das Symbol für Dragosz’ Tod war.
Doch je mehr sie versuchte, den Einbaum aus ihren Gedanken zu verdrängen, umso mehr Macht schien er über sie zu gewinnen. Sie war sich schmerzhaft bewusst, dass er in seiner Art einmalig war, nicht vergleichbar mit den anderen Booten, die ein Stück weiter auf den rauen Ufergrund gezogen worden waren. Er wirkte breiter als üblich und gerade so lang, dass ein hochgewachsener Mann darin liegen konnte. Überdies war er statt aus Buchenholz aus einem wuchtigen Eichenstamm geschlagen worden, jenem Holz also, von dem es hieß, es überdauere die Ewigkeit.
Alle im Dorf hatten gewusst, warum Dragosz selbst mit Hand angelegt hatte, als die Männer den gedrungenen Einbaum im Frühjahr ausgebrannt und behauen hatten. Er sollte ihm einmal für die letzte Reise über den Frykr dienen - aber doch nicht schon jetzt, und nicht nach einem so erbärmlichen Tod! Dragosz war der beste Herrscher, den sich die Raker nur hatten wünschen können! Er hatte sein Volk aus Hunger und Not herausgeführt, und er wollte mit Arris Unterstützung eine Weihestätte für die Himmelsscheibe errichten: größer und mächtiger sogar als das sagenumwobene Goseg - damit sie alle zusammen auch künftig in Frieden und Wohlstand leben konnten. Und er war doch ihr Leben! Er verkörperte all das, was sie sich für ihre Zukunft ersehnt hatte.
Wie hatte das nur alles geschehen können? Mit Kyrill hatte sie ihrem Mann in einer Uferhütte den ersehnten Nachfolger geschenkt, das äußere Zeichen ihrer Liebe, die ihr altes Wissen und Dragosz’ Tatkraft in einer Person miteinander verschmolz.
Sie hatte geglaubt, ihr gemeinsames Glück in dem schon fast vollständig errichteten Pfahldorf sei damit fest begründet. Doch jetzt war ihr Leben zerstört, und niemals wieder würde die Sonne für sie scheinen, die Freude nie wieder in ihr Herz einkehren.
Aber was war mit ihrem Sohn? Was sollte nach Dragosz’ Tod nur aus ihm werden?
Arri schluchzte auf, als sie an das kleine Bündel dachte, das sie gestern noch in den Armen gehalten hatte. Und dann schluchzte sie noch einmal, als ihr bewusst wurde, dass es vielleicht das letzte Mal gewesen war, dass sie Kyrill an ihre Brust gedrückt hatte. Ihr Schluchzen hallte ungewöhnlich laut über den Steg, bevor es vom Nebel wie von einem gierigen Raubtier verschluckt wurde. Wie sehr sie Kyrill schon jetzt vermisste!
Kyrill und Dragosz. Ihren Sohn und ihren Mann.
Dragosz, seine Stärke, seine Lebendigkeit! In allen wichtigen Lebensfragen hatte sie sich mit ihm besprochen, und das hätte sie auch jetzt getan, bei der Frage nach Kyrills Schicksal. Es war ihr Sohn gewesen, den ihr der Schmiedegehilfe Rar so grob aus den Armen gerissen hatte, als wollte er ihn schon im nächsten Augenblick ins Schmiedefeuer werfen. Alles fühlte sich so entsetzlich sinnlos an. Dragosz hatte immer Rat gewusst oder sie darin ermutigt, selbst eine Lösung zu finden. Sie waren einander die wunderbarste Ergänzung gewesen: Sie, die von ihrer Mutter Lea in Dingen unterrichtet worden war, für die die Raker noch nicht einmal Worte hatten, und Dragosz, der große Visionen umzusetzen verstand und auf dem Weg dorthin alle Hindernisse aus dem Weg räumte: die einen mit guten Worten, die anderen allerdings ... mit Gewalt.
In dem schmerzlichen Augenblick ihrer größten Trauer war es die niederschmetternde Heimtücke des Schicksals gewesen, die sie fast mehr erschüttern konnte, als Dragosz in der Totenbarke aufgebahrt zu sehen. Der Herrscher der Raker war ein Krieger, und wenn es ihm schon nicht vergönnt war, alt und ehrenhaft inmitten seiner Sippe den letzten Atemzug zu tun, dann hätte ihm doch zumindest der Tod auf dem Schlachtfeld bestimmt sein sollen. Aber wie ein tollwütiger Hund mit Schaum auf den Lippen zu verrecken, das war ja noch schlimmer als alles andere, das hatte er nicht verdient!
Sie beugte sich noch ein Stück weiter vor, die Beinfesseln schnitten sich wie schartige Bronzeklingen in ihre Haut ein. Der Schmerz war jedoch auch fast so etwas wie ein Freund, nur dazu da, sie ins Leben zurückzuholen. Aber statt ihn zu beachten, wanderte ihr Blick über den Toten, über die ebenmäßigen Gesichtszüge des Mannes, der sie bei ihrer ersten Begegnung vor einem angriffslustigen Wolf gerettet hatte, und der ihr seitdem immer beigestanden hatte, auch in der schweren Zeit, als ihr die Raker mit unverhohlener Verachtung begegnet waren.