Zakaan schwankte. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte das Gleichgewicht verloren. »Die Himmelsscheibe«, flüsterte er. »Du meinst also, dass letztlich die Himmelsscheibe Dragosz zum Verhängnis geworden ist ...«
»Nicht die Scheibe selbst ist Dragosz zum Verhängnis geworden«, berichtigte ihn die Todessyre. »Sondern sein Verlangen nach der Heilerin Surkija, dem Weib seines Bruders. Er hat die Frau begehrt und sich die Heilerin genommen - und damit den Bruch einer Gemeinschaft heraufbeschworen, die zuvor fester gefügt war als Zinn und Kupfer, wenn sie zur Bronze verschmolzen sind.«
»Aber welches Geheimnis hütet die Himmelsscheibe nun wirklich? Und was hat das mit Dragosz zu tun?«
Die Todessyre schien ein Stück in sich zusammenzuschrumpfen. Zakaan merkte es kaum. Er war so aufgewühlt wie schon lange nicht mehr.
»Dragosz verbindet alles miteinander«, sagte das rätselhafte Wesen. »Er verbindet die Vergangenheit und die Zukunft. Er verbindet auch die verschiedenen Blutlinien. Und er öffnet das Tor zum Leben.«
»Aber ich denke, Dragosz ist tot!«, erwiderte der Schamane.
Durch das rätselhafte Wesen - das ihm vielleicht auf eigenen Wunsch hin erschienen war, vielleicht aber von den Stammvätern geschickt worden sein mochte, um ihn auf irgendetwas längst Vergessenes aufmerksam zu machen - ging erst ein Zittern, und dann flackerte es auf und glitt so schnell in den Wald zurück, dass es nur noch als vager Umriss zu erkennen war.
»Aber was bedeutet es, dass Dragosz die Blutlinien miteinander verbindet?« Zakaans Stimme überschlug sich jetzt fast. »Was hat das zu bedeuten? Sag es mir! Ich muss es wissen!«
Es war ganz verkehrt, eine Todessyre anzuschreien, falsch und töricht. Aber Zakaan konnte die Worte nicht mehr zurückholen, die ihm wie ohne sein Zutun entschlüpft waren, und erst recht konnte er die Erregung nicht verbergen, die ihn gepackt hatte.
»Du hast Ragoks ältesten Sohn in den Tod geschickt«, wirbelten die Worte der Todessyre fast unverständlich heran. »Lexz soll Ragoks Rache vollziehen. Doch das ist der falsche Weg. Das ist immer der falsche Weg. Rache führt nie zu etwas. Dadurch kann niemand sein Lebensglück erzwingen, und schon gar nicht wird Lexz in der Lage sein, Nakur dadurch wieder zum Leben zu erwecken. Sondern ganz im Gegenteiclass="underline" Wenn er nicht aufpasst, wohin er seinen Fuß setzt, wird er seinem Bruder schon sehr bald ins Totenreich nachfolgen.«
Die Stimme war kaum verständlich, ihr Sinn dafür umso mehr.
»Lexz ist in Gefahr?« Der Schamane hatte das Gefühl, nun komplett den Halt zu verlieren. Lexz war nicht nur Ragoks einzig verbliebener Sohn, er war viel, viel mehr. Zakaan ahnte schon seit Langem, dass Lexz gewaltige Prüfungen bevorstanden und er sie vielleicht nicht bestünde. Aber das alles spielte im Augenblick keine Rolle.
Wenn Ragok die Vergangenheit war, dann war sein Sohn Lexz die Zukunft. Und wenn es etwas noch Wichtigeres gab, als der Vergangenheit treu ergeben zu sein, dann, der Zukunft alle Tore zu öffnen.
»Lexz ist in Gefahr«, bestätigte die Todessyre. »Er ist sogar in großer Gefahr. Denn das Geheimnis, das er aufdecken will, vernichtet all die, die sich ihm öffnen.«
Die Worte brannten sich fast Zakaan ein. Sie klangen widersinnig, kaum verständlich. Aber sie berührten den Schamanen tief in seinem Innersten ...
»Sag mir, wie ich ihm helfen kann!«
Nun geschah genau das, was er befürchtet hatte: Die Todessyre zog sich so schnell zurück, wie sie gekommen war. Aber sie verschwand nicht einfach, sie verschmolz mit dem Wald - und riss dabei ihre ganze Umgebung mit in einen Strudel, der alles aufsaugte, die Wiese, die Sträucher, den Himmel. Zakaan schlug die Hände vors Gesicht, unfähig mit anzusehen, wie sich die geheime Welt auflöste, in die er mit Hilfe des Rauchkrauts und der geheimen Pilzmischung eingetaucht war.
Und Zakaan schrie auf, als er begriff, was das für Lexz bedeutete ...
Kapitel 3
Lexz war wütend. Es war eine Wut, die sich tief aus dem Inneren speiste, aus der Quelle der Kraft, die den Krieger ausmacht und ihn befähigt, jede Form von Schmerz und Qual auszuhalten und an dem Ziel festzuhalten, das, einmal gesteckt, ihn immer weiter antrieb: bis er entweder dieses Ziel erreicht hatte oder tot war.
Seine Füße flogen geradezu über den Waldboden, trampelten über Insekten und Ameisen, knickten Halme, rissen dünne Zweige ab. Seine Hände wischten dürres Geäst beiseite, verscheuchten Schmetterlinge und Mücken und rissen eine Schneise in Ranken und Gestrüpp, wo immer das nötig war. Sein Herz schlug hart und gleichmäßig. Von seiner Stirn stoben Schweißperlen davon.
Die Schmach über das, was Dragosz seinem Vater angetan hatte, saß tief. Es war ein Schmerz wie der einer alten Verletzung, den man noch so oft bis an den Rand der Wahrnehmung verdrängen konnte, und der doch immer wieder hervorbrach: und dies meist dann, wenn man ihn am wenigsten erwartete.
Sein Vater war ein harter Mann, der ihn und alle anderen so heftig antrieb, als hänge ihrer aller Leben davon ab, dass jeder Einzelne jeden Tag Höchstleistungen vollbrachte. Lexz hatte ihn oft verdammt und alles versucht, um seinen übertriebenen Anforderungen so weit wie möglich zu entgehen - was meist vergebens gewesen war, denn Ragok war nicht nur unerbittlich, er besaß auch das Geschick, jede noch so kleine Verfehlung oder Nachlässigkeit zu bemerken. Jetzt aber begann er zu begreifen, dass die Alte Geierkralle, wie ihn einige Frauen hinter seinem Rücken nannten, recht gehabt hatte.
Die Dürre, die sie gezwungen hatte, ihre einst fruchtbaren Wiesen und Wälder zu verlassen, weil ihre Ernte vertrocknet und jeder Bach versiegt war, schien wie ein Fluch über sie gekommen zu sein. Sie hatten alles versucht, um in ihrer Heimat zu bleiben. Aber nachdem auch noch das letzte kümmerliche Bächlein ausgetrocknet war, die letzten saftlosen Beeren verzehrt und nicht nur der letzte Höhlenlöwe, der letzte Hase, sondern sogar auch noch das letzte Eichhörnchen erlegt worden war, wie er sich voller Ingrimm erinnerte, war ihnen gar nichts anderes übrig geblieben, als nach Westen aufzubrechen, dorthin, wohin ihnen die Stammväter den Weg gewiesen hatten.
Lexz keuchte laut auf, als er sich an die Feuerwalze erinnerte, in die sie zu Beginn ihrer Wanderung hineingelaufen waren. Er sprang über einen Stein, der ihm im Weg lag, duckte sich unter einem ausladenden Zweig hinweg und schlug so hart mit der flachen Hand gegen den Stamm einer ausladenden Ulme, dass ein scharfer Schmerz durch seinen Unterarm jagte.
In den ersten drei Tagen waren sie gut vorangekommen, aber dann war es nicht nur ein ständiger Brandgeruch gewesen, der ihm von Ferne in die Nase gestiegen war, sondern auch beißender Rauch. Sie hatten versucht, ihn so gut es ging zu umgehen, und Lexz erinnerte sich daran, wie auch damals schon eine Mutter neben ihrem fünfjährigen Kind zusammengebrochen war und sich nicht mehr rührte, als der Schamane sie an der Schulter gepackt hatte ...
Das war der Anfang vom Untergang gewesen.
Lexz duckte sich unter einem ausladenden Zweig hinweg, und zwei, drei kleine bunte Vögel stoben auf und flatterten unter wildem Geschnatter davon, von einer großen schweren Amsel gefolgt ...
Der Anblick des schwarzen Vogels traf Lexz wie ein Messerstich. Er erinnerte ihn schmerzhaft an die Vögel, die am vierten Tag ihrer Wanderung über ihren Köpfen hinweggezogen waren: wie die Vorboten eines von den Göttern verhängten Strafgerichts. Zum Schluss waren es schwarze Vögel gewesen, dick und sattgefressen, die ihren Weg gekreuzt hatten, Raben, wie der Schamane erklärt hatte. Und als er dann einen mit einem Pfeil vom Himmel hatte holen wollen, war plötzlich der Schamane neben ihm gewesen.
»Tu das nicht«, hatte Zakaan befohlen. »Raben sind Unglücksvögel.«
»Dann ist es doch umso besser, wenn ich sie töte«, hatte Lexz widersprochen, und einen Pfeil auf die Sehne des kostbaren Bogens gelegt, den er damals noch besessen hatte.