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Sie riss den Blick von der fernen Siedlung los und starrte nach oben. Die Wolkendecke war gerade noch fest geschlossen gewesen, jetzt aber riss sie an einigen Stellen wieder auf und hatte auch ihre Farbe gewechselt. In das Schwarzgrau mischte sich ein blutroter Ton; zumindest bildete sich Arri das ein.

»Ist es das, was du mir zeigen wolltest, Mutter?«, fragte sie bitter. »Aber warum? Warum quälst du mich so?«

Ihren Worten folgte ... nichts. Der Himmel blieb so, wie er war - genauso wie ihre Einsamkeit, die sie hier, auf dem höchsten Gipfel der Umgebung und im Angesicht der Verwüstung, die das Unwetter hinterlassen hatte, bitterer spürte als je zuvor.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein!«, rief sie zum Himmel empor. »Ich werde Kyrill beschützen! Er wird nicht sterben!«

Wieder geschah ... nichts. Der Himmel öffnete seine Schleusen nicht, um Fluten über sie zu ergießen, es kam auch kein neuer Wind auf, der sie umtoste und umzuwerfen versuchte, noch nicht einmal das unnatürlich wirkende Licht änderte sich.

»Was ist, Mutter?«, fragte Arri hart. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Bislang hätte noch alles Zufall sein können, aber als der Sturm gekommen war, um sie hier nach oben zu treiben, und der Himmel dann auch noch ausgerechnet über der Siedlung am See aufgerissen war - das war kein Zufall mehr, dessen war sie sich sicher. Je länger sie dastand und mit weit aufgerissen Augen und erhobener Faust nach oben blickte, umso unbehaglicher wurde ihr zumute.

Sie hatte geglaubt, sich in einem stummen Gespräch mit ihrer Mutter zu befinden, wie schon so oft zuvor. Aber dies hier war ... etwas anderes. Sie hätte es nicht genau benennen können, und schon gar nicht hätte sie die richtigen Worte gefunden, wenn sie es jemand anderem hätte erzählen wollen.

»Mutter?«, fragte sie unsicher. »Lea?«

Auch diesmal gab es keine Antwort, und enttäuscht senkte sie den Blick. Vielleicht war es tatsächlich ihre Mutter gewesen, die ihr ein Zeichen hatte geben wollen - vielleicht aber auch jemand ganz anderes. Arri war in dem Glauben, dem die Flussleute angehangen hatten, nicht so fest verwurzelt. Und schon gar nicht hatte sie alles in ihr Innerstes getragen, was sich die Raker an Ritualen und Glaubenssätzen zu eigen gemacht hatten. Aber natürlich wusste sie genauso gut wie alle anderen, dass es mehr gab, als man mit bloßem Auge sehen oder mit menschlichem Ohr hören konnte. Es gab allerlei Naturgeister und Dämonen, also Wesen, die quälen und verderben konnten, wenn es nicht gelang, ihren Einfluss zu begrenzen. Und es gab noch andere, mächtigere: jene Götter, die ihre Macht über die Naturgewalten hatten und die Menschen je nach Laune straften oder belohnten.

Wer war sie denn, sich mit ihnen anzulegen?

»Überlege genau, was du tust«, hätte Lea jetzt gesagt.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte sie eher gesagt: »Wenn du Gewalt anwendest, um Kyrill zu holen, bringst du nicht nur dich in Gefahr - sondern auch deinen Sohn. Du musst einen anderen Weg finden, um ihn zu befreien!«

»Nein«, murmelte Arri. »Keinen anderen Weg. Sondern meinen Weg!«

Endlich musste sie diese törichten Gedanken an ihre Mutter aus dem Kopf bekommen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Und das hieß, dass sie hier verschwinden sollte. Wenn sie erst in der Höhle war, konnte sie weitersehen - entweder dort eine Weile bleiben, oder sich schon morgen einen anderen Unterschlupf suchen.

»Überstürze nichts«, hätte Lea hinzugefügt. »Setze die Kraft deines Erbes weise ein - und nicht zerstörerisch.«

»Da entlang«, sagte Orakar und deutete ins Tal hinab, in Richtung einer besonders auffälligen Felsformation, die wie ein großer Vogelkopf aussah, schwarz und bedrohlich. »Wir müssen da lang!«

Die anderen Männer nickten. Sie packten ihre Waffen fester und machten sich auf den Abstieg in das steinerne Tal, in dem die Götterstatuen standen. Sie alle wussten, was sie zu tun hatten.

Dragosz war tot. Arianrhod befand sich auf der Flucht. Alles geschah so, wie die Götter es vorausgesagt hatten.

»Bringen wir das zu Ende, was vor langer Zeit begonnen hat«, sagte Orakar. »Töten wir die, die zwischen uns und der Macht stehen. Holen wir uns die Himmelsscheibe!«

Zustimmendes Gemurmel antwortete ihm, und als Orakar in die Gesichter seiner Männer blickte, entdeckte er zwar auch Müdigkeit und Erschöpfung in ihren Minen, vor allem aber Kampfeswillen und Zuversicht.

Sie würden siegen. Die Götter waren mit ihnen.

»Für Goseg!«, rief Orakar.

»Für Goseg!«, riefen auch die anderen im Chor.

Als Arri etwas Metallisches aufblitzen sah, wusste sie, dass sie zu lange getrödelt hatte. Sie hatte geglaubt, ihre Verfolger abgehängt zu haben, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Es traf zwar zu: Sie waren abgebogen, in ein Seitental hinein, statt sie auf direktem Weg zu verfolgen. Aber nur, weil sie eine Abkürzung nach oben kannten, die von der anderen Seite aus hinaufführte!

Der Gedanke schoss Arri mit der Geschwindigkeit eines Pfeils durch den Kopf, und nicht viel länger brauchte sie, um sich zu ducken und hinter einem Felsen Deckung zu suchen, der nur leider kaum breiter war als sie selbst. Ich habe keine Waffe, durchzuckte es sie, ich brauche aber mein Schwert. Sofort.

Das metallische Blitzen war am nördlichen Hang zu sehen gewesen, ganz kurz nur und auf die übliche Weise, mit der eine achtlos hochgenommene und in eine Sonnenspiegelung geratene Waffe schnell wieder heruntergerissen wurde. Das bewies zweierlei: Derjenige, der dort unterwegs war, hielt keinen Knüppel in der Hand und auch keine Steinaxt, sondern eine Waffe aus Bronze oder Kupfer. Das machte die Sache doppelt gefährlich.

Arri rutschte ein Stück tiefer, soweit es ihre augenblickliche Deckung nur zuließ, und spähte ins Tal hinab. Sie wurde mit einem grandiosen Ausblick auf das steinerne Wunder unter sich belohnt, das sie diesmal allerdings weniger vor Ehrfurcht erschauern ließ. Unter glücklicheren Umständen hätte es ihr aber auch eher einen kalten Schauer über den Rücken gejagt. Wie überdimensionale Finger stachen Steinmonolithen in den Himmel empor, manche nur halb aus dem Steinbruch herausgehauen und merkwürdig unfertig aussehend, andere wie Findlinge ohne jegliche Spur einer Bearbeitung, während eine Vielzahl der größten unter ihnen teilweise oder vollständig behauen waren. Einige waren auf der Oberseite mit Moos und Flechten bewachsen, die meisten aber grauschwarze Ungetüme, die aussahen, als hätten die Götter sie dort als Mahnung an die Menschen in den Untergrund gerammt, sich nur nicht zu wichtig zu nehmen.

Wie lange diese steinernen Zeugen einer längst vergangenen Menschheitsepoche hier schon standen und mit sturer Beharrlichkeit selbst den heftigsten Unwettern trotzten, war gar nicht abzuschätzen. Aber es schien, als atme über dem ganzen Tal der Odem der Ewigkeit und mache ihn erst zu einem mystisch zeitlosen Ort, geradezu geschaffen für uralte Rituale - und für die Begegnung mit den Ahnen. Arri hatte diesen Zauber schon das erste Mal gespürt, als sie mit Dragosz hergekommen war. Und auch jetzt fühlte sie, wie etwas Uraltes Besitz von ihrer Seele ergriff und sie einlud, mit auf eine magische Reise ins Nirgendwo zu kommen ...

Ein heftiger Windstoß ließ sie torkeln, dann klammerte sie sich fest und starrte in den dunklen, teilweise aufgerissenen Himmel. Wo waren jetzt die Ahnen? Wo war ihre Mutter? Wer stand ihr bei?

Bitte, helft mir, flehte sie.

Die Wolken rissen nicht auf, kein geheimes Zeichen erschien am Himmel und auch die Stimme ihrer Mutter war nicht zu hören. Dafür ließ der Wind merklich nach. Statt so grob an ihr zu zerren, als wolle er sie im nächsten Augenblick herunterreißen, wurde er sanfter und umstrich sie so zärtlich, dass sie das Gefühl hatte, von liebkosenden Händen gestreichelt zu werden.

»Dragosz?«, flüsterte sie.

Sie wusste, dass ihr Mann noch nicht im Totenreich angekommen sein konnte, dazu war die Reise über den Frykr viel zu lang und beschwerlich. Aber konnte es nicht trotzdem sein ...?