Es konnte nicht sein. So, wie sie dastand und zum Himmel starrte, gab sie ein gutes Ziel ab - Dragosz hätte ihr das niemals durchgehen lassen.
Und zwar zu Recht, wie sie begriff, als sie aus den Augenwinkeln heraus erneut eine Bewegung gewahrte, und diesmal war es mehr als nur ein kurzes Aufblitzten. Noch bevor sie sich ganz umgedreht hatte, wurde ihr klar, dass sich jemand aus seiner Deckung erhoben hatte und zu ihr hinübersah. Arri hätte beinahe laut aufgelacht, als sie den verwaschenen Schatten eines Mannes erkannte, der einen Bogen hochriss und mit geübter Bewegung einen Pfeil auf die Sehne legte.
Ein Bogenschütze? Die Vorstellung war doch lächerlich. Gewiss, viele der Dorfbewohner kannten sich mit Pfeil und Bogen bestens aus - aber warum sollten sie auf sie schießen, wenn sie sie doch eingekesselt hatten und davon ausgehen mussten, dass sie sie ohnehin noch vor Einbruch der Nacht einfangen konnten: wie ein Lamm, das sich zu weit von der Herde entfernt hatte. Schließlich wollten sie ihr doch den Prozess machen, ob mit oder ohne Gosegs Hilfe ...
Sie kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. Der Pfeil wurde von der Sehne gelassen und schnellte auf sie zu, und so schnell ihre Ausweichbewegung auch kam, so kam sie doch zu spät. Ihr Kopf war noch nicht einmal ein kleines Stück zurückgezuckt, als der Pfeil auch schon da war - und durch ihr Haar hindurchfegte, um irgendwo hinter ihr auf einem Felsen aufzuprallen und klappernd über nackten Stein zu fallen.
Arri stieß einen enttäuschten Schrei hervor, ging in die Hocke und streckte die Hände aus, bis sie einen Überhang zu fassen bekam, an dem sie sich entlanghangeln konnte. Jeder bewusste Gedanke schien wie hinweggefegt, sie wollte nur noch weg von hier. Mit hastigen Bewegungen zog sie sich weiter, immer sorgfältig darauf bedacht, kein so leichtes Ziel zu bieten.
Dem ersten Pfeil folgte kein zweiter, was auch nicht weiter verwunderlich war: wenn sie niemanden sah, würden auch ihre Gegner sie nicht mehr im Blickfeld haben. Die Frage war nur: Wie kam sie jetzt zur Höhle? Sie wusste weder ganz genau, wo sie lag, noch, wie sie zu erreichen war - und sich gefahrlos umsehen, das ging nun schon gar nicht mehr.
Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, hörte sie etwas, das sie vorhin vermisst hatte: Hundegebell. Jetzt hallte es dumpf und drohend von den Wänden wider, noch nicht so nah, dass sie jeden Augenblick eine gierig sabbernde Hundeschnauze über sich würde auftauchen sehen, und mit Sicherheit auch nicht aus der gleichen Richtung, in der der Bogenschütze nach wie vor auf ein freies Schussfeld lauerte...
Das war gar nicht gut. Das Gesicht des Bogenschützen hatte sie nicht erkennen können, dazu war es zu sehr von dem Halbschatten der Anhöhe über ihm verborgen gewesen, und auch kaum etwas von seiner Kleidung. Und trotzdem: Jetzt war sie sich sicher, dass er aus dem Dorf stammte.
Wieder bellte ein Hund, dann ein zweiter; Laute, die so ursprünglich von der Lust am Stellen, Fassen und Töten sprachen, dass ihr Körper fast wie von selbst darauf reagierte. Sie musste hier verschwinden, einen Ausweg finden - und ihre Füße schoben sich vorwärts, ihre Finger suchten Halt, ihre Augen hielten nach einem halbwegs passablen Abstieg Ausschau.
Nur nicht ins Schussfeld des Bogenschützens geraten, hämmerte es in ihren Gedanken. Nicht einfach irgendwo hinklettern, sondern immer nur in Richtung der Höhle - wo auch immer sich dieses verdammte Loch verbergen mochte.
In der Höhle lag ihre Waffe, dorthin würden ihr die Hunde nicht folgen können - sie schob sich immer weiter, mit kleinen, viel zu langsamen Bewegungen und der ständigen Furcht, irgendwo anders konnte auch noch ein weiterer Bogenschütze Stellung beziehen, um sie abzuschießen. Oder jemand mochte über ihr auftauchen, um ihr einen Stein auf den Kopf zu werfen.
Irgendetwas polterte. Sie riss den Kopf nach oben, darauf gefasst, ihre schlimmsten Befürchtungen könnten sich nun bewahrheiten. Stattdessen sah sie einen großen schwarzen Vogel davonflattern. Ihr wurde schwindlig und sie musste sich festklammern.
Es war nicht der erste große schwarze Vogel, den sie gewahrte. Sie erinnerte sich noch gut an den Raben, der am Morgen nach Dragosz’ Tod in den blutroten Morgenhimmel hineingeflogen war. Auch jetzt wieder so ein Unglücksvogel! Wenn es auch, wie sie auf den zweiten Blick erkannte, eher eine Krähe als ein Rabe war.
Löß und Steinchen rieselten von der Stelle herab, von der aus sich der Vogel erhoben hatte. Nun gewann er unter wildem Geschnatter schnell an Höhe, ging in eine Kurve ... und kehrte wieder zurück. Im ersten Augenblick glaubte Arri noch, der Vogel wolle sie angreifen, dann bemerkte sie ein Nest, das geschickt getarnt und selbst von ihrem Standort aus kaum sichtbar in einer Felsspalte hing. Und sie sah, wie die Krähe auf Raubvogelart darauf zuschoss.
Im Nest gab es eine zappelnde, aufgeplusterte Bewegung. Die Krähe wischte darüber hinweg, hackte mit dem Schnabel hinein und flog erneut eine Kurve, um ihren Angriff abzuschließen und das Nest endgültig auszuräubern, ganz so, wie es ihre Art war.
Sie kam aber nicht weit. Ein Pfeil jagte heran, vielleicht für sie bestimmt, vielleicht auch nur ein Probeschuss, der nun zufällig eine Richtung genommen hatte, wie sie für den Vogel verhängnisvoll war ... und er durchbohrte den schwarzen Vogel. Die Krähe stieß einen schrillen, krächzenden Laut aus, machte ein paar kräftige Flügelschläge, die sie noch einmal Höhe gewinnen ließen - und stürzte dann wie ein Stein in die Tiefe, ganz genau auf sie zu.
Arri hielt den Atem an und versuchte sich so klein wie nur möglich zu machen, die Augen angsterstarrt nach oben gerichtet. Es war ein verrückter Anblick: der große schwarze Vogel, durchbohrt von einem Pfeil, abgeschossen knapp über ihrem Kopf ... aber er würde an ihr vorbeifallen, mehr als eine Armeslänge entfernt, wenn nicht ...
... wenn nicht genau das geschah, was jetzt geschah.
Die Krähe war noch nicht tot. Sie zappelte, nicht so wie ein Vogel, sondern eher wie ein Schaf, das man zum Scheren niederrang; dann breiteten sich ihre Schwingen wieder aus, kraftlos jetzt, aber doch weit genug, dass der Wind unter sie fahren konnte, um den sterbenden Vogel gegen die Wand zu drücken, und zwar genau auf sie zu.
Das schwarze Federvieh schoss auf sie zu. Arri sah in die tückischen schwarzen Knopfaugen des sterbenden Tieres, sie las das Versprechen, sie mitzunehmen in den Tod, und mehr noch, sie glaubte so etwas wie ein Erkennen in ihnen zu lesen. Und tief in ihr antwortete etwas darauf und ließ sie mit raubtierhaftem Instinkt reagieren. Ihre rechte Faust zuckte zu einem Schlag hervor, wie ihn Dragosz oft, sie selbst aber noch nie ausgeführt hatte. Und in das letzte schauerliche Krächzen der Krähe mischte sich ein tiefer gutturaler Laut.
Sie erwischte die Krähe so wuchtig am Hals, dass der Vogel einen grotesken Hüpfer machte. Er flatterte auf, gewann wieder an Höhe, und einen schrecklichen Augenblick lang sah es so aus, als würde er sich nun auf die gleiche Art auf Arri stürzen wollen, in der er auch schon das fremde Nest attackiert hatte. Arri machte eine rasche Abwehrbewegung und traf den Pfeilschaft: Die Krähe rotierte einmal um ihre Achse und tauchte dann unter ihr weg, prallte gegen einen Felsen, wurde wieder davongeschleudert ...
Und Arri wäre ihr um ein Haar gefolgt. Ihr letzter wilder Abwehrschlag hatte sie ein Stück nach vorn stolpern lassen, auf den Rand des Felssims zu, auf dem sie Schutz gesucht hatte. Und nur mit einer entschlossenen, rückwärts rudernden Bewegung konnte sie ihr Gleichgewicht wahren und sich irgendwo so festklammern, um sich wieder an die Wand zu ziehen.
Sie wartete keuchend ab. Dieser widerliche Vogel! Sie verstand überhaupt nicht, was gerade geschehen war. Raben und Krähen wurden seit alters her die unterschiedlichsten Dinge nachgesagt, und nur die wenigsten waren freundlich. Sie galten als Unheilverkünder, standen in dem Ruf, Menschen verwirren zu können und Unglück über Felder und Pflanzungen zu bringen - aber so etwas wie eben?