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»Was ist hier ... nur los?«, murmelte sie. Was mochte sie getan haben, dass ihr die Götter einen Unglücksvogel schickten und ihn von einem Bogenschützen abschießen ließen, nur damit sie in die Tiefe stürzte?

Es war ein ganz und gar unsinniger Gedanke, und sie wusste dies auch, aber sie konnte sich nicht von ihm lösen. Sie wusste nicht, welche Götter es waren, die sie herausgefordert hatte, und warum sie so zornig auf sie waren: Aber sie wusste, dass sie sie vernichten wollten.

Wie zur Antwort auf diesen Gedanken erscholl erneut Hundegebell über ihr, rau, hungrig und angeheizt. In ihrer Phantasie sah sie Männer und Frauen den Weg bis zum Gipfel entlanghasten, mit entschlossenen Gesichtern und zusammengekniffenen Mündern, zu nichts anderem entschlossen, als sie für ihre Untaten mit dem Tod zu bestrafen, ob sie sie dafür nun einen Berg hinabstürzen, totprügeln oder mit einem Pfeil abschießen mussten.

Gehetzt wie ein Reh, das keinen Ausweg mehr wusste, sah sie sich um. Die Stelle, an der sie jetzt mehr hockte als stand, hätte ungünstiger nicht sein können; von hier aus kam sie nicht weg, konnte nicht mehr schnell in irgendeine Richtung fliehen. Während ihr Blick über die kargen Sträucher und schroffen Felsen glitt, ging ihr die Verwüstung gar nicht aus dem Sinn, die sie eben noch im Dorf gesehen hatte. Die zerschlagenen Hütten am Ufer, die zerstörten Stege, der weggewirbelte Hausrat - all dies war schrecklich. Wenn man glaubte, die Fremde sei all für dies verantwortlich, die Drude, die schon drei Tage zuvor so viel Unheil über Urutark gebracht hatte - dann war es wirklich kein Wunder, wenn man sie jetzt zu Tode hetzen wollte.

Wie dem auch sei. Sie musste jedenfalls weiter, möglichst an eine andere Stelle, von der aus sie besser wegkam; zur Not auch erst einmal irgendwo anders hin, und nicht gleich in die Höhle. Vorsichtig schob sie sich weiter, einen winzigen Schritt nach dem anderen, und so eng an die Wand gedrückt, dass sie hören konnte, wie Stoff riss und etwas in ihren Rücken einschnitt. Nur noch ein kleines Stück bis zum nächsten Vorsprung, dahinter war sie dann wenigstens vor dem Bogenschützen in Sicherheit - vorerst jedenfalls.

Sie stieß sich ab, fuhr mit glitschigen Händen über nackten Fels, fand dort Halt, wo sie gar keinen vermutet hatte, rutschte dann aber gleich wieder an der Stelle ab, die ihr fälschlicherweise sicher erschienen war, und bekam mit dem rechten Fuß ausreichend Gegendruck, um sich abzustoßen ...

Ein Pfeil pfiff auf sie zu und knallte in eine winzige Felslücke vor ihr. Um ein Haar wäre sie zurückgeprallt und hätte damit endgültig den Halt verloren. Ihre Hand rutschte über Moos, bekam den Pfeilschaft zu fassen und umklammerte ihn in schierer Verzweiflung. Der Pfeil zitterte und knirschte, bewegte sich ein winziges Stück zur Seite ... aber nicht nach unten.

Arri fasste nun auch noch mit der anderen Hand zu, und bevor sie eigentlich wusste, was sie da tat, umklammerte sie mit aller Kraft den Pfeilschaft, während ihre Füße wegrutschten. Es knirschte in der Wand, der Pfeil gab nach, und sie glaubte schon zu spüren, wie sie fiel - und kam doch wieder zur Ruhe, da der Pfeil immer noch nicht aus dem Felsspalt herausrutschte, so fest war er hineingeschossen worden. Sie konnte gar nicht fassen, wie ihr geschah. Zitternd und bebend hing sie über dem Abgrund, und es war nichts weiter als jener Pfeil, der sie hatte töten sollen, der ihr jetzt einen trügerischen Halt gab und den schon sicher geglaubten Absturz zumindest hinauszögerte.

Die Haare flatterten ihr ins Gesicht, und sie musste sie wegpusten, bevor sie überhaupt wieder etwas sehen konnte. Der - oder die - Bogenschützen hatten offenbar ein freies Schussfeld auf sie, und was auch immer sie jetzt tat, es konnte ja doch nur ihren Tod zur Folge haben. Sie verrenkte sich fast den Hals, um den Kopf weit genug in Richtung des Schützens verdrehen zu können.

Auch wenn sie es geschafft hätte, es hätte ihr wohl kaum etwas genützt: denn dann hätte sich höchstens wehrlos mit ansehen müssen, wie der Bogenschütze einen neuen Pfeil auf die Sehne legte, um auf sie zu zielen ...

Ein paar kleine Steinchen lösten sich neben dem Pfeilschaft aus der Wand, als es ihr bei diesem ungeheuerlichen Gedanken die Luft abschnürte und sie sich so unruhig bewegte, wie man es sonst nur in einer schweißtreibenden, durchwachten Nacht tat, in der einen alte Erinnerungen oder die Angst vor einer ungewissen Zukunft quälten. Lockeres Erdreich und Moos polterten den Steinchen hinterher, als hätte sie nur auf diese Gelegenheit gewartet, und luden sie damit ein, es ihr gleichzutun. Vor lauter Schreck hätte sie den Pfeil beinahe losgelassen und wäre dem losen Geröll gefolgt. Ihr Herz begann auf eine schrecklich ungesunde Weise noch härter und lauter zu schlagen als auf dem Weg von Urutark bis hier herauf. Als sie sich so weit wie möglich zurücklehnte, zitterten nicht mehr nur ihre Hände, sondern ihr ganz Körper. Sollte es also auf diese Weise enden?

Und wenn schon. Ob nun der Pfeil aus der Wand brach oder ein neuer Pfeil sie traf, es war einerlei. Sie war erschöpft, und das Zittern in ihren Armen verriet ihr, dass sie sich ohnehin nicht mehr lange würde festhalten können. Was geschah aber nun, wenn sie sich der Erschöpfung ergab, die ihren geschwächten Körper von Anfang an hatte in die Knie zwingen wollen? Wenn sie sich jetzt als Zielscheibe für den oder die Bogenschützen weiter so lange anklammerte, wie es nur möglich war: bis sie entweder abgeschossen wurde oder einfach hinabstürzte, weil der Pfeil ja doch irgendwie aus der Wandritze rutschen musste ...

Die Vorstellung war verlockend. Sie war müde und erschöpft, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war sie auch ohne Aussicht, ihren Verfolgern auf Dauer zu entkommen. Doch dann sah sie wieder Taru vor sich, wie er sich ihr zornig entgegenreckte, wie sich seine Muskeln spannten, wie sich die Zornesfalte auf seiner Stirn bildete. Und sie sah, wie er in einer Hand ein schreiendes Bündel hielt, Kyrill! Um ihn zu zerschmettern ...

Nein, nein, und nochmal nein! Solange sie auch nur die geringste Chance hatte zu verhindern, dass eine solch schreckliche Szene Wirklichkeit wurde, musste sie sie nutzen. Sie würde Kyrill niemals im Stich lassen!

Kapitel 21

»Da!«, stammelte Isana. »Da! Was ist das?«

Taru fuhr herum. Seit Tagen schon spürte er eine Erregung, die er einfach nicht in den Griff bekam. Und jetzt sprang sie ihn wie ein Raubtier an, das sich heimlich angeschlichen und nur auf die richtige Gelegenheit für einen Angriff gewartet hatte.

»Die Krähe!«, rief sie. »Da - siehst du sie nicht? An dem Felsen! Sie stürzt ab!«

Tarus Blick wollte zum Himmel fahren, aber Isanas aufgeregt hervorgestoßene Worte ließen ihn im letzten Augenblick zu der schroffen Felsformation blicken, auf die die Tochter des Schmieds mit einer aufgeregten Geste deutete. Er zuckte zusammen, als er die Krähe sah: Es war ein Felsen in Form eines Vogelkopfes, der viel dunkler, sogar fast schwarz war, während die umgebenden Felsen die unterschiedlichsten Grautöne aufwiesen. Die Augen dieser Krähe entsprachen wohl nicht mehr als zwei Mulden in dem, was wie ein gedrungener Vogelkopf aussah. Aber sie schienen Taru auf eine Weise kalt und durchdringend zu mustern, die ihn erschaudern ließ.

Von wegen Krähe ..., hatte er schon sagen, da lenkte etwas über dem steinernen Vogelkopf seine Aufmerksamkeit auf sich.

Isana hatte recht gehabt. Da war eine leibhaftige Krähe, und sie verhielt sich zweifellos seltsam, flatterte nach oben, verschwand hinter einem Vorsprung, kaum dass Taru auch nur eine entfernte Ahnung von ihr hatte erfassen können. Aber das war nicht das einzig Seltsame an ihr: Der Vogelkörper schien durch einen Pfeil durchbohrt zu sein, der an einem Ende schräg über den Flügeln eingetreten sein musste und auf der anderen Seite über dem Bauch wieder austrat.