Granartara drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Der Laut, der sich ihrer zerstörten Kehle entrang, hatte nichts mehr mit denen zu tun, die immer und immer wieder nach den Kräuterplättchen verlangt hatten. Sie streckte die Hand vor und ballte sie zu Faust. Als ihr Blick den von Lexz traf, war in ihm nichts weiter als eine unendliche Qual.
Ohne Ekarna loszulassen, sprang er vor. Doch er kam zu spät. Granartara stürzte vor ihm wie ein Stein zu Boden, der über einen Abhang hinweggekollert war und nun in eine Schlucht fiel. Ekarna riss sich mit einem Aufschrei von ihm los und bückte sich zu der hässlichen alten Frau hinab, die zuckend und wimmernd am Boden lag und vielleicht gar nicht begriff, dass es nur noch wenige Augenblicke dauern konnte, bis sie ihr Leben ausgehaucht hatte.
Lexz fuhr herum, das Schwert war plötzlich wie von selbst in seiner Hand, genauso wie der Hammer in der Torgons, als Ragoks Vertrauter aufsprang und neben Lexz Stellung bezog. Sie starrten beide in die Richtung, aus der der Pfeil abgeschossen worden sein musste, in diese bizarre Felsformation, die sich ein Stück unterhalb von ihnen befand, und die hinter Steinen, Bäumen und Büschen mehr Möglichkeiten bot, sich zu verstecken, als ihnen lieb sein konnte.
»Siehst du jemanden?«, zischte Torgon, und als Lexz mit einem Kopfschütteln verneinte, hörte er, wie Ekarna zu ihnen hochzischte: »Wir sind hier ohne Deckung. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Richtig«, bestätigte Torgon. »Wir sollten hier weg. Aber sofort.«
Doch statt seinen Worten Taten folgen zu lassen, blieb Torgon wie angenagelt stehen. Lexz konnte es ihm nicht verdenken. Irgendetwas geschah hier gerade, was er nicht richtig einordnen konnte - und es hatte auch nicht unbedingt etwas mit Bogenschützen zu tun, die es auf sie abgesehen hatten.
Es war das, was über ihnen passierte. Wind kam auf, und selbst, wenn das eigentlich unmöglich war, so hatte Lexz doch das Gefühl, dass er aus allen Richtungen zugleich auf sie einhämmerte. Dagegen war der Himmel über ihnen zu einem unwirklich wirkenden Blauschwarz erstarrt, scheinbar vollkommen still, als wäre er aus Bronze gegossen.
So friedlich dieser Anblick auch wirkte, am Horizont, an der schmalen Linie zwischen den Baumwipfeln und dem Himmel brach er so rasch auf, dass Lexz den Blick jetzt gar nicht von ihm wenden konnte. Wo gerade noch eine verschwommene Linie aus unterschiedlichen Grün- und Grautönen gewesen war, die die Grenze zwischen Wald und Himmel markiert hatte, türmten sich jetzt gewaltige, pechschwarze Wolken buchstäblich himmelhoch und dabei so bedrohlich auf, als löse sich gerade eine Insel aus Schwärze von ihrem angestammten Platz und drifte langsam auf sie zu. Es zuckten zwar keine Blitze hervor und es gab auch kein Wetterleuchten. Der Horizont war weiterhin nur voller bedrohlich wirkender Wolken - aber nur für einen ganz kurzen Augenblick.
Dann zerriss der flackernde Widerschein eines Blitzes doch irgendwo vor ihnen den Himmel, und kurz darauf erklang ein dumpfes Grollen. Gleichzeitig fauchte ein eisiger Windstoß heran, der jetzt nur noch eine Richtung und ein Ziel zu haben schien: sie zu vernichten.
Ausgerechnet der alte Schamane war es, der die Lage als Erster richtig einschätze. Mit einer torkelnden Bewegung kam er hoch und brüllte schon im Umdrehen: »Ins Haus!«
Dabei riss er seinen Bruder hoch, der viel langsamer als Zakaan war und vielleicht auch gar nicht verstand, was er von ihm wollte. Lexz dagegen wusste es sofort. Er drehte sich um, riss Ekarna auf die Füße, die unsicher wirkte und nicht zu begreifen schien, was sie tun sollte, und rannte hinter Torgon her, der noch ein wenig schneller als er selbst gewesen war.
Der heranziehende Sturm verschlang jedes andere Geräusch, und doch glaubte Lexz zu hören, wie da etwas knallte und polterte. Er hoffte nur, dass es nicht das Haus war, auf das sie gerade zuliefen. Wenn es nämlich zum Spielball der Naturgewalten und vom Sturm auseinandergerissen wurde, dann waren sie ganz verloren.
Alles Mögliche machte sich selbstständig, wurde von den Böen hochgewirbelt und sauste an ihnen vorbei. Lexz achtete gar nicht darauf. Er sah, wie ausgerechnet Zakaan die Tür der baufälligen Hütte als Erster erreichte, sie aufriss und seinen Bruder unter dem tiefgezogenen Reetdach hindurchstieß. Kurz darauf folgte Torgon. Als er sich bückte und zu ihm zurückblickte, schien er ihm etwas zuzurufen. Aber die Worte wurden ihm aus dem Mund gerissen und kamen nur noch als unverständliche Fetzen bei Lexz an.
Torgon winkte Lexz noch einmal zu und zog Ekarna an sich vorbei, die nun auch das Haus erreicht hatte.
Lexz nickte und blieb, nur wenige Schritte von dem Haus entfernt, stehen, um sich noch einmal umzusehen. Er musste unbedingt wissen, wer die Bogenschützen waren. Aber die Hoffnung, nun jemanden hervorstürmen zu sehen, der jetzt - wie sie auch - sein Heil darin suchen musste, irgendwo unterzuschlüpfen, zerstob, als er das Ausmaß der Katastrophe sah, die dort auf sie zurollte. Es war eine massive schwarze Wand, die ihnen gefolgt sein musste und eine Welle der Zerstörung vor sich hertrieb.
Er war versucht, hier noch eine Weile auszuharren und sich das unglaubliche Schauspiel anzusehen, das sich da vor seinen Augen abspielte. Aber die Sturmausläufer schienen nur darauf gewartet zu haben, dass jemand so leichtfertig war, sich ihnen entgegenzustellen. Die Böen sprangen ihn augenblicklich an; zwar nicht so schlimm, dass er gleich bei ihrem ersten Ansturm sein Gleichgewicht verloren hätte, aber doch stark genug, um ihn ein Stück zurücktorkeln zu lassen.
Er machte auf dem Absatz kehrt und stürmte in die Hütte.
Die großen behauenen Steine im Tal hatten einen Vorteiclass="underline" Sie schirmten vollständig vor neugieren Blicken ab, und auch ein ganzer Pfeilregen würde keine Chance haben, sie zu durchdringen. Taru hatte einen Platz am Anfang des Tales im Schutz zweier Monolithen gewählt, der ihnen einerseits zu fast allen Seiten Schutz versprach und es ihm andererseits dennoch ermöglichte, mit ein paar Schritten zur Seite und einem schnellen Blick in die Runde die Umgebung im Auge zu behalten, wenn es darauf ankam.
Der Abschuss der Krähe verwirrte ihn umso mehr, als er ihn nicht einordnen konnte - ihn einfach nicht begriff. Wer, bei allen Göttern, ging denn hier auf Krähenjagd? Und das, nachdem gerade erst ein verheerendes Unwetter über die Region gezogen war?
Ihm wären noch eine ganze Reihe anderer Fragen eingefallen, auf die alle er keine Antwort wusste. Aber dadurch durfte er sich nicht von seiner Suche nach Arianrhod abhalten lassen. Wenn er sich wie ein kleiner Junge benahm, der vor der kleinsten Schwierigkeit kniff, würde er weder sich selbst noch seinem Vater Ehre machen. Nein, er würde dies hier jetzt durchziehen und nichts unversucht lassen, um die im Unwetter entflohene Drude ihrer gerechten Strafe zuzuführen.
»Und was tun wir jetzt?«, fragte Isana ängstlich.
Taru drehte sich zu ihr um und musterte sie nachdenklich. Isana sah furchtbar aus. Ihr Haar war zerzaust, ihre linke Wange so gerötet, als sei sie geschlagen worden, und obwohl sie auch beim Sprechen den Mund nicht richtig öffnete, glaubte er gesehen zu haben, dass ihr ein Eckzahn fehlte. Ihre Kleidung passte dazu, sie war dreckig, zerrissen und triefte nur so vor Nässe.
Und außerdem lieferte sie ihm ein Schauspiel nach dem anderen. Das alles lief so ab: Ich spiele ein liebes kleines Mädchen, das dir nur helfen will - in Wirklichkeit aber warte ich nur darauf, bis ich dir ein Messer in den Rücken stoßen kann.
»Was genau hast du gesehen?«, fragte er barsch.
»Ein Aufblitzen«, antwortete Isana nach einem fast unmerklichen Zögern. »Und dann war da irgendjemand ...«
»Irgendjemand?«
»Ja.« Isana fuhr sich mit der Hand durch die nassen wirren Haare. In diesem Augenblick hatte sie etwas an sich, das Taru an die alten Mythen der Todessyren denken ließ. Das war merkwürdig, und wieder lag darin etwas, das ihn verwirrte. Tief in seinem Innersten wusste er, dass es etwas mit der Krähe zu tun hatte, und der Art, wie sie zu Tode gekommen war.