Und vielleicht auch damit, dass der Tod in diesem Tal so greifbar war! Er glaubte ja geradezu, Leichengeruch wahrzunehmen.
»Ich kann es dir auch nicht genau sagen.«
Taru starrte sie überrascht an. »Was genau kannst du nicht sagen?«
»Nun«, antwortete Isana, »du hast mich doch gefragt, was ich gesehen habe.« Ja, das hatte er. Aber dann hatte er an den Tod denken müssen - und plötzlich stieg die pure, nackte Todesangst in ihm auf. »Und genau das kann ich dir nicht sagen. Es war kaum mehr als ein undeutlicher Schemen, der genausogut alles hätte sein können.«
»Natürlich.« Taru glaubte ihr kein Wort. Eigentlich hätte er sie jetzt unter Druck setzen müssen. Aber das konnte er nicht. Der Gedanke an die Todessyre und die Empfindungen, die er auslöste, ließ sich nicht so einfach abschütteln. Es hatte etwas Bedrückendes.
Mit einer trotzigen Bewegung trat Taru aus dem Schutz des Monolithen hervor. Wenn jetzt ein Pfeil auf ihn zurasen sollte - bitte sehr. Ansonsten war wohl alles nur Blödsinn, was er gerade gedacht hatte.
Es war tatsächlich Blödsinn, denn es geschah gar nichts, und er sah auch niemanden. Trotzdem ließ er den Blick noch einmal in aller Ruhe über die Felswände auf beiden Seiten schweifen. Er suchte gründlich nach irgendetwas Verdächtigem - zumindest so gründlich, wie ihm das von hier unten aus möglich war.
»Nichts«, murrte er jedoch nach einer Weile. »Kein Bogenschütze, keine Arianrhod.«
»Sollten wir die Suche nicht lieber abbrechen?«, fragte Isana. »Ich meine, jetzt, da wir wissen, dass hier Bogenschützen unterwegs sind ...«
»Wir brechen überhaupt nichts ab«, fuhr Taru sie an. »Im Gegenteil, wir setzen die Suche fort.« Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Aber wir brauchen dringend irgendetwas, was uns weiterhilft.«
»Ja«, pflichtete ihm Isana bei. »Aber leider wäre ich dir bei der Suche nach Arri jetzt eher eine Last als eine Hilfe. Warum lässt du mich nicht einfach gehen?«
Taru schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht. Du bleibst erst mal bei mir.«
»Aber warum?«, jammerte sie. »Ich finde es ja freundlich von dir, dass du mir hochgeholfen hast, nachdem mich der Sturm aufs Ufer geworfen hatte. Aber jetzt muss ich wirklich zurück. Ich bin doch die Heilerin. Ich muss so schnell wie möglich ins Dorf, um den Verletzten zu helfen!«
»War es denn tatsächlich der Sturm, der dich niedergeworfen hat?«, fragte Taru bissig. »War es nicht Arianrhod ... auf ihrer Flucht?«
Als sie nicht gleich antwortete, warf er einen Blick in die Richtung, aus der die Krähe hinabgestürzt war. Ein kleiner Busch erregte seine Aufmerksamkeit, weil sich dessen Zweige so bewegten, als hielte sich jemand daran fest. Er trat einen Schritt vor und beschattete die Augen mit der Hand.
Ja, das zähe Gezweig machte eine viel stärkere Bewegung, als es dem Wind eigentlich entsprach. Taru spürte, wie ihn das Jagdfieber packte. Da oben war etwas, ganz sicher. Wenn er Pech hatte, war es allerdings ein Bogenschütze, der gerade einen Pfeil auf seinen Bogen legte, um dann mit einer schnellen Bewegung vorzutreten und auf ihn anzulegen. Wenn er aber Glück hatte, war das Arianrhod, die dort Schutz vor ihm gesucht hatte, weil sie ihn schon von weitem auf das Tal hatte zukommen sehen.
»Der Busch ist mir vorhin auch schon aufgefallen«, sagte Isana, der sein Blick nicht verborgen geblieben war. »Von dort kam der Vogel, der hinabgestürzt ist. Dort oben sind auch noch andere Krähen.«
Krähen, die einen Busch in eine solche Bewegung versetzten? Taru konnte das nicht glauben. Doch sein Misstrauen zerstob, als er von dem Felsrand über dem Gebüsch eine Krähe aufsteigen sah, ein großes, tiefschwarzes Exemplar, das sich mit einem wütend klingenden Krächzen in die Lüfte erhob und sich dann augenblicklich wie ein Raubvogel emporschraubte.
»Die Menschen im Dorf brauchen mich«, sagte Isana hartnäckig, ohne das Auftauchen der Krähe zu kommentieren. »Denk doch an die Verletzten! Wir können sie nicht im Stich lassen. Ich muss so schnell wie möglich zurück.«
Geistesabwesend nickteTaru. »Selbstverständlich. Du sagst es. So schnell wie möglich. Also sieh zu, dass wir die Drude finden - dann kannst du sofort zurück!«
Diese unverschämte Tochter des Schmieds schnappte nach Luft, wie Taru aus den Augenwinkeln feststellte. Dabei tat er aber so, als blicke er der Krähe hinterher, die jetzt abdrehte und auf die andere Seite des Tales zuhielt.
Isana würde schon noch begreifen, warum er sie sich geschnappt hatte, als sie vor ihm im Dreck des Uferschlicks gelegen hatte. Sie an den Haaren zu packen und sich mit ihr zusammen an die Verfolgung von Arianrhod zu machen, war eins gewesen. Während der Wind wie mit unsichtbaren Reißzähnen über sie hergefallen war, hatte Isana irgendetwas von dem Steinbruch gebrabbelt, zu dem Arianrhod vielleicht geflohen war. Wahrscheinlich hatte sie damit gerechnet, dass er sich für den Hinweis bedanken und sie freilassen würde.
Er war doch nicht blöd. Isana mochte glauben, dass sie als Heilerin unter dem besonderen Schutz der Gemeinschaft stand, und Taru wusste nur zu gut, dass ihr Vater Kenan jeden, der es wagte, seiner geliebten Tochter ein Haar zu krümmen, seinen Schmiedehammer spüren ließe. Doch es gab ein sehr einfaches und wirkungsvolles Mittel, wenn ihm die kleine Heilerin dumm kam: Er konnte ihr die Kehle durchschneiden und ihren Körper in die ekelhafte Leichengrube werfen, die er bei seinen Streifzügen zusammen mit Rar in den Wäldern entdeckt hatte.
Fast erschrak er vor seinen eigenen Gedanken. Aber auch nur fast. Vielleicht lag es an der Todessyre, dass jetzt so düstere Gefühle in ihm hochstiegen, ohne dass er sie zurückhalten konnte. Bilder voller Gewalt, Leidenschaft und Tod. Aber vielleicht waren sie auch nur das Zeichen dafür, dass er nun endlich das Gesetz des Handelns an sich riss.
Er erinnerte sich noch sehr genau daran, wie es gewesen war, als er und Rar das erste Mal an der Leichengrube gestanden hatten. Ihnen beiden war schlecht geworden, und Taru hatte sich zu seinem eigenen Entsetzen sogar erbrochen. Seinen Lebtag lang würde er diese riesige Suppe aus abgerissenen und halb verwesten Körperteilen nicht vergessen, die so aussah, als wäre sie von einem abgrundtief bösen Riesen angerührt worden. Taru hatte inzwischen mehr als nur einen - allerdings unsicheren - Verdacht, was es mit dieser Grube auf sich hatte. Und genau zu diesem vermuteten Zweck wollte er sie auch verwenden: um Leichen darin verschwinden zu lassen.
Noch hatte er nicht entschieden, ob er Arri lebendigen Leibes in den Leichenpfuhl stoßen würde, oder ob es doch besser war, sie vorher zu töten. Sie am Arm zu packen, das Entsetzen auf ihrem Gesicht zu sehen, wenn sie begriff, was er vorhatte: Darauf freute er sich schon. Auf der anderen Seite war er sich aber nicht sicher, ob es dieser Irren nicht gelingen konnte, durch die abscheuliche Leichensuppe zu waten, um sie auf der anderen Seite unbeschadet wieder zu verlassen.
Die Vorstellung, sie auf diese Weise entkommen zu lassen und zu sehen, wie sie sich irgendetwas Ekelhaftes aus dem Gesicht wischte und ihn triumphierend anstarrte, um sich dann umzudrehen und im Wald zu verschwinden, das war sein ganz persönlicher Albtraum. Nein, dazu durfte er es auf keinen Fall kommen lassen. Er würde sie töten, sobald er ihrer wieder habhaft wurde.
Schluss mit der falschen Rücksichtnahme vergangener Tage! Er war der Herrscher der Raker, und wer sich ihm nicht beugte, den würde er in seine Schranken verweisen - oder aber töten. Die Leichengrube konnte ihm dabei noch so manchen guten Dienst leisten. Vielleicht sollte er sie gleich Arianrhod-Grube nennen, denn die Drude würde die Erste sein, die er dort hinwerfen wollte. Sie wieder einzufangen, um sie ins Dorf zurückzubringen und vielleicht der Gerichtsbarkeit Gosegs überlassen zu müssen - das wäre keine gute Idee. Er musste dafür sorgen, dass sie unwiederbringlich verschwand.