»Bei Ygdra, nein!« Der Schamane war ihm regelrecht in den Arm gefallen. »Wer einen Raben tötet, wird seines Lebens nie wieder froh werden!«
Lexz hatte das für übertrieben gehalten, zumal ein paar fettgefressene Vögel vielleicht verhindert hätten, dass nach der jungen Mutter auch noch andere an Entkräftung zusammenbrachen - aber er hatte es nicht gewagt, Zakaan zu widersprechen. Der Schamane stand den Göttern näher als irgendein anderer - sein Wort galt.
Dass die Raben tatsächlich gefiederte Unglücksboten waren, hatte er erst begriffen, als es fast zu spät gewesen war. Dabei war zunächst etwas geschehen, was er sich die ganze Zeit über gewünscht hatte, nachdem ihre Felder und Äcker verdorrt und ihre Teiche ausgetrocknet waren: Das Wild war zu ihnen gekommen, ohne dass sie sich hatten anstrengen müssen. Wie in der wilden Phantasie eines verzweifelten Jägers, der die Spuren von Rehen oder Wildpferden bereits seit Tagen vergeblich verfolgte, hatten sie plötzlich ein Hufgetrappel gehört, das direkt auf sie zuzuhalten schien. Ragok und der Schamane hatten sich mit ein paar schnellen Sätzen verständigt, während sich Lexz, Larkar und die anderen jungen Männer darauf vorbereitet hatten, schnelle Beute zu machen.
Als sein Vater zu ihnen herübergekommen war, hatte ihm Lexz jedoch bereits angesehen, dass etwas nicht stimmte.
»Wir ziehen weiter«, hatte Ragok kurz und knapp befohlen, »aber erst einmal ein Stück in Richtung Süden, in Richtung der Berge. Wir müssen von dem Feuer weg.«
Er hatte nicht viel erklären müssen, denn sie alle hatten gespürt, dass sich die wabernde Hitze wie eine Faust um sie zu schließen begann. In aller Eile waren sie aufgebrochen, mitsamt der wenigen Wasservorräte und Habseligkeiten, die ihnen geblieben waren.
Und obwohl sie kaum Rücksicht auf die Alten und die Kinder genommen hatten, waren sie nicht schnell genug gewesen. Dem Hufgetrappel folgten die ersten versprengten Gruppen von Wildpferden und Rehen, dann kamen Füchse, Dachse und ein riesiger zotteliger Bär, der geifernd und knurrend auf sie zutrabte, kurz vor ihnen aber abschwenkte und wie die meisten anderen Tiere in Richtung des ausgetrockneten Flussbetts davonlief, ohne dass sie ihn verfolgen durften - weil Jagdglück und Feuertod unweigerlich aufeinandergefolgt wären.
Es waren keine großen Rudel gewesen, die ihnen entgegenkommen waren - was ja auch kaum ein Wunder gewesen war, schließlich hatten sie im Bereich mehrerer Tagesreisen alles leergejagt. Aber sie waren voller Panik. Rauch verdunkelte den Horizont, und in der Luft hatte ein ganz merkwürdiger Geruch gelegen: zunächst streng, dann fast beißend, und zum Schluss war da etwas, das alles andere überlagert hatte. Kurz darauf wehte der Wind einen dichten, dicken, schwarzen Qualm heran, wahrscheinlich den Vorboten von etwas viel Schlimmerem, das sie hatte keuchen und verzweifelt nach Luft schnappen lassen.
Sie hatten versucht, ihm mit einem abermaligen Richtungswechsel zu entgehen, und jeder Gedanke ans Jagen oder an ihren beißenden Hunger war wie weggeblasen. Sie wollten jetzt nur fort von dem Flächenbrand, der sich mit atemberaubender Geschwindigkeit auf sie zubewegt hatte. Doch vergeblich. Schon bald hatten die Flammen sie so einzukesseln begonnen, als wollten sie die Götter an Ort und Stelle für Dragosz’ Frevel bestrafen.
Aber vielleicht wollten sie ja nicht nur das. Vielleicht wollten sie ja auch gleich alle Raker auslöschen, weil ihnen die wenigen kargen Opfergaben nicht gereicht hatten, die sie ihnen in letzter Zeit dargeboten hatten.
Lexz’ Erinnerung brach in sich zusammen, als ihn ein einzelner Lichtstrahl traf, harmlos, verglichen mit allem, was ihn an grellem Licht in der letzten Zeit gepeinigt hatte, und doch hell genug, um die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben. Dem einzelnen Lichtstrahl folgten weitere, als er eine Lichtung erreichte, die so voller Leben war, dass es schon fast eine Unverschämtheit bedeutete. Bunte Schmetterlinge stoben auf, Bienen schwirrten zwischen farbenprächtigen Blüten umher, irgendetwas huschte auch zwischen seinen Beinen davon, und überall war ein Summen, Rascheln und Schwirren. Ehe er sich versah, stob ein Heer gieriger Mücken von einem Baum auf, der reich mit im Sonnenlicht glänzenden Früchten beladen war, und jagte auf ihn zu, um ihn gierig zu umschwirren und den einen oder anderen Angriff auf ihn zu starten.
Lexz verzichtete darauf, die Mücken beiseite zu wischen, rannte stattdessen weiter über die saftige Wiese und spürte die kühle, regennasse Luft auf seiner Haut. Er konnte einfach nicht glauben, dass sich ihre Strapazen doch gelohnt haben sollten. Am Ende, als bis auf Zakaan kaum noch jemand daran geglaubt hatte, hatten die Stammväter wohl doch recht behalten, und alles, was ihnen der Schamane über das gelobte Land im Westen berichtet hatte, erwies sich eher als Untertreibung statt als Prahlerei.
Wahrlich, es war eine Wunderwelt, in die er hier eintauchte, ein Ort, wie er ihn sich zusammen mit seinem Waffenbruder Larkar und den anderen jungen Männern immer wieder voller Sehnsucht ausgemalt hatte, wenn sie hungernd und verschwitzt eine viel zu heiße Nacht auf einer leergebrannten Wiese verbracht hatten.
Und ob er es wollte oder nicht, schon wieder stieg Bitterkeit in ihm auf. Im Angesicht der blühenden Natur um ihn herum musste er erneut an die Zeit der schweren Prüfungen denken, die nun hinter ihnen lag. Dass die große Wanderung schon nach ein paar Tagen fast in der fürchterlichen Feuersbrunst geendet hätte, die wie ein unbarmherziges Strafgericht über sein Volk gekommen war, hatte selbst den immer fröhlichen Larkar schließlich zunehmend einsilbig gemacht. Und nun das! Wie recht hatte doch der Schamane mit seinen Ermahnungen gehabt, sorgfältig auf alle Zeichen der Götter zu achten, auf alles, was ihnen Wind, Wolken, Sonne und auch die Erde unter ihren Füßen sagen konnten, und dies sorgfältig mit dem abzuwägen, was die Ahnen von ihnen verlangten: das gelobte Land Urutark im reichen, satten und grünen Westen zu suchen.
Er hatte Dragosz verflucht, als sie bei ihrer Wanderung immer wieder durch Qualm und Rauch gezogen waren, bis sie geglaubt hatten, ersticken zu müssen. Er hatte seinen Namen hasserfüllt hervorgestoßen, als sein jüngerer Bruder Nakur vor Schwäche gestolpert war und sich nicht mehr hatte erheben können. Und er hatte vor Schmerz und Zorn gewimmert, als jener jämmerlich verendet war, obwohl sein Vater und er ihn tagelang durch eine Albtraumlandschaft getragen hatten, bis sie selbst die Kräfte verlassen hatten.
Dragosz!
Verdammnis über die Seele des Mannes, der ihm seinen Bruder genommen hatte!
Sein jüngerer Bruder war nicht der Erste gewesen, der auf ihrer großen Wanderung einen jämmerlichen Tod gestorben war, und schon gar nicht der Letzte. Die Umstände waren einfach gegen sie gewesen, und das vielleicht nur, weil sie viel zu viele Tage gezögert hatten, Dragosz zu folgen, und stattdessen ihr altes Leben hatten bewahren wollen. Dafür waren sie von den Göttern bestraft worden, als seien sie die Sünder, und nicht der, der die Werte ihrer Gemeinschaft in den Dreck getreten hatte.
Tagelang hatten sie verkohlte Tierkadaver vorgefunden, verbrannte Siedlungen und entstellte Leichen - aber nichts Essbares und nur selten brackiges, kaum genießbares Wasser. Als sie dann Tage später mit dem ersten Grün auch auf die ersten lebenden Menschen gestoßen waren, war schließlich das entbrannt, was ihr Leben von da an bestimmen sollte: der Kampf um jagdbares Wild, um Fischgründe und Kornkammern. Hitze und Dürre waren ihnen dabei wie ein mordlüsternes Bruderpaar gefolgt, und so sehr es sie auch beschämen mochte: Im Überlebenskampf waren sie selbst zu Mördern und Totschlägern geworden.
Sie waren keine Eroberer, die kamen, um zu verheeren und zu töten: Aber es war ihnen seit dem letzten Sommer kaum etwas anderes übrig geblieben, als sich wie Barbaren zu verhalten, wenn sie ihre Familien schützen wollten. Der Winter war hart gewesen, und von den drei Frauen, die Kinder zur Welt gebracht hatten, waren zwei gestorben. Von den Kindern aber hatte kein einziges überlebt.