Sobald er sie gefunden hatte.
Er fühlte, wie ihn bei diesem Gedanken eine neue Kraft durchströmte. Isana schien das zu merken, denn sie rückte so weit von ihm ab, wie es im Schutz der Monolithen nur möglich war. Schließlich ging sie ein paar Mannslängen von ihm entfernt in die Hocke, tat so, als überprüfe sie eine Spur, und warf dann wieder einen prüfenden Blick auf die Felsformation zu ihrer Linken.
Taru ließ das zu. Sie konnte ihm ja ohnehin nicht entkommen. Außerdem mochte es ja tatsächlich so sein, dass sie einen Hinweis auf Arianrhods Verbleib fand. Sie glaubte doch schließlich auch, er ließe sie frei, sobald er die Drude wieder eingefangen hatte.
Umso größer würde ihr Entsetzen sein, wenn sie begriff, was er vorhatte.
Tarus Blick wanderte zu den gewaltigen Monolithen, die sich vor ihnen erhoben. Manche dieser riesigen steinernen Überbleibsel einer untergegangen Kultur wiesen nur grobe Bearbeitungsspuren auf, während andere so glatt und makellos wirkten wie die Oberfläche des Sees an einem vollständig windstillen Tag. Ihnen allen gemein war aber, dass ihnen einst ein anderes Schicksal vorbestimmt gewesen war, als hier einen unvollständigen Steinkreis zu bilden. Bei ihrem Anblick konnte er Dragosz’ und Arianrhods Wunsch schon beinahe verstehen, den Steinkreis nun zu ergänzen - um mit ihm auch ein Gegengewicht zu Goseg zu bilden.
Vielleicht sollte er die Idee ja aufgreifen. Es würde ihm ein diebisches Vergnügen bereiten, die Unverschämtheiten des Hohepriesters von Goseg mit gleicher Münze zurückzuzahlen.
Die Begegnung mit diesem aufgeblasenen, dümmlichen Großmaul steckte ihm nach wie vor in den Knochen. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Glaubte er denn wirklich, er könne ihn mit seinem vorlauten Getue und den paar Kriegern beeindrucken? Damit würde er aber nicht durchkommen. Kaarg hatte vollkommen recht: Goseg war nichts weiter als eine Schönwetter-Macht. Und es war nicht nur der Winter, der schon vor der Tür stand, der den Machtanspruch Amars schon sehr bald unter einer dicken Schneeschicht ersticken würde, es waren auch die Unwetter, die gerade jetzt mit verheerender Wut über das Land hinwegzogen.
Eigentlich ist es doch viel besser, dachte Taru, das schlimme Wetter zu nutzen, und das am besten gleich hier und jetzt.
Das war ihm umso wichtiger, als noch ein ganz anderer Stachel in seinem Fleisch steckte, eine Demütigung, die ihn vor ohnmächtiger Wut hatte aufstöhnen lassen, als er das erste Mal davon gehört hatte. Er wusste, dass jeder Herrscher Verbündete brauchte, zumindest aber einen Vertrauten, der auch ohne viele Fragen das tat, was man von ihm verlangte. Bislang hatte er Rar für diesen Vertrauten gehalten. Vielleicht war der aber doch nicht mehr als nur ein dreckiger Verräter.
Als Taru an den Schmiedejungen dachte, verzerrte sich sein Gesicht voller Wut. Dieser Bauertölpel hätte jetzt eigentlich an seiner Seite stehen sollen. Aber nein, was tat er stattdessen? Er ließ sich von dem Schmied dazu zwingen, Abdurezak auf der Suche nach irgendwelchen Heilkräutern zu begleiten. Kurz vor dem Sturm waren die beiden aufgebrochen, und wenn es nach Taru ging, brauchten sie auch nicht mehr wiederzukommen. Auf Abdurezak, diesen alten Sturkopf, konnte er ohnehin verzichten, und Rar hatte sich in letzter Zeit so dämlich angestellt, dass es vielleicht besser war, wenn er ihm gar nicht mehr unter die Augen trat.
»Ich glaube, ich habe etwas gefunden«, sagte Isana schüchtern.
Ein fernes Donnergrollen unterstrich ihre Worte und ließ sie fast drohend wirken.
Taru fuhr zusammen und warf einen schnellen Blick zu der Stelle, von der Isana sich gerade erhob. Er zuckte ein zweites Mal zusammen, als er vor ihr im Sand eine Spur zu sehen glaubte.
Und wieder ertönte ein fernes Donnergrollen. Es hielt viel länger an, als es eigentlich sollte.
Taru starrte nach oben, in den wolkenverhangenen Himmel. Was er da sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Wie viele seines Volkes besaß er die instinktive und lebenswichtige Gabe, die Veränderungen des Wetters recht zuverlässig einschätzen zu können. Aber dieses sonst so vertraute Vermögen ließ ihn jetzt im Stich. Der Wind war abgeflaut und die grauschwarzen Wolken wirkten auf eine vollkommen widernatürliche Weise wie erstarrt. Möglich, dass sich das Unwetter nur wie eine Horde feindlicher Krieger zurückzog, um dann kurz darauf wieder mit verheerender Wut über sie herzufallen. Genauso möglich schien es aber auch, dass sie das Schlimmste schon hinter sich hatten und das Donnergrollen nichts weiter als ein Rückzugsgefecht war, mit dem das Gewitter weiterzog.
»Ich bin sicher, dass Arri hierher kommen wollte«, sagte Isana. »Und dies hier könnte eine Spur von ihr sein.«
»Das will ich hoffen - für dich«, sagte Taru.
Fast widerstrebend riss er sich von dem Anblick des ungewöhnlichen Himmelsbildes los. Mit wenigen Schritten war er bei Isana und ging in die Hocke, um die Spuren im Sand zu prüfen, auf die sie ihn aufmerksam gemacht hatte.
»Das hier soll eine Spur von Arri sein?«, fragte er gefährlich leise, während er mit den Fingern über die Unebenheiten in dem feuchten Sand fuhr und zu ihr aufsah. »Das kann nicht sein. Hier ist jemand langgegangen, der wesentlich schwerer als deine Druden-Freundin ist!«
»Schwerer?«, fragte Isana besorgt. »Aber wer könnte das gewesen sein?«
Taru nahm eine Handvoll Sand auf, wog ihn in der Hand und erhob sich dann mit einem Ruck. »Ich habe einen Verdacht«, sagte er wütend. »Einen ganz bestimmten Verdacht sogar! Und eigentlich müsstest du diese Spuren auch erkennen!«
»Die Spuren erkennen?« Isana verstand offensichtlich überhaupt nichts. »Warum sollte ich sie erkennen?«
Taru tippte ihr mit der freien Hand kräftig gegen die Stirn. »Wer ist groß und stark und geht mit tapsigen Schritten, so wie ein Bär?«
»Mein Vater?«, fragte Isana angstvoll.
Taru schüttelte den Kopf. »Nein. Deinen Vater meine ich nun wirklich nicht. Ich meine jemanden, der jünger ist. Und das hier...«, Taru deutete auf eine zweite Spur, die ein Stück weiter entfernt und schon fast zugeweht war, »das waren die Schritte von jemandem, der zwar mühsam geht, aber so leicht wie eine Feder ist.«
Isana schien noch immer nicht zu verstehen. »Wer ist ...?«
Taru verpasste ihr eine zweite, diesmal deutlich heftigere Kopfnuss. »Rar!«, brüllte er, während Isana die Tränen in die Augen schossen. »Rar und Abdurezak!«
»Rar und Abdurezak?«, wimmerte Isana. »Aber warum sollten die beiden ...« Sie brach ab und schlug sich die Hand vor den Mund, und das gerade noch rechtzeitig, denn Taru wollte ihr gerade einen weiteren Schlag verpassen.
»Ja«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich habe davon gehört. Abdurezak und Rar sind gemeinsam unterwegs. Sie suchen ... irgendwas. Oder wollen jemanden treffen. Ich hab das nicht ganz verstanden.«
»Sie suchen Heilkräuter«, sagte Taru böse. »Das ist ja auch ganz wichtig.«
»Heilkräuter?«, fragte Isana ungläubig. »Aber warum weiß ich dann nichts davon? Ich bin doch die Heilerin!«
»Ja«, antwortete Taru ungehalten. »Du bist die Heilerin, und ich bin Dragosz’ rechtmäßiger Nachfolger. Aber seltsamerweise scheint das niemand so richtig zu begreifen.« Er deutete in die Richtung der Monolithen. »Da sind sie langgegangen. Kannst du mir sagen, was das soll? Welche Heilkräuter findet man dort hinten?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Isana verzweifelt. »Wirklich nicht.«
»Und warum hast du mich hierhin geführt?«, fragte Taru.
»Aber das weißt du doch«, antwortete Isana verwirrt. »Du wolltest wissen, wo sich Arianrhod versteckt haben könnte. Und dies hier war ihr Lieblingsort. Ihrer und der von Dragosz auch.«
»Und warum sollte sie hierhin fliehen?«, fragte Taru in der Hoffnung, sie bei einer offensichtlichen Lüge zu ertappen.