Hastig deutete Isana auf die Felswände. »Arri kennt die Höhlen dort oben, sie hat sich mal versprochen und gesagt, das wäre ihr ganz geheimer Rückzugsort«, plapperte sie so schnell drauflos, dass sich ihre Stimme überschlug. »Wie ich sie kenne, will sie sich hier verstecken und dann später wieder in unser zerstörtes Dorf zurückschleichen, um Kyrill zu holen.«
Kyrill. Ja. Das war auch noch jemand, der seinen Platz in der Leichengrube finden sollte. Und zwar ganz schnell.
»Bist du sicher, dass du mich nicht auf eine falsche Fährte lockst, damit deine Druden-Freundin entkommen kann?«, fragte Taru lauernd.
Isana wich ein kleines Stück zurück, als verstünde sie nun endlich, dass es unklug war, ihn weiter hinzuhalten. Gut so. Sie musste gründlich begreifen, dass sie in der Gemeinschaft zwar einen Platz als Heilerin finden konnte - aber auch nur dann, wenn sie sich endgültig seinem Herrschaftsanspruch beugte, verdammt!
Er ballte die Hand so fest zur Faust, dass sich die Sandkörner in seine Haut bissen. Der Schmerz sollte ihn zur Räson bringen, aber er tat es nicht. Vielleicht musste er ihr seine Vorstellungen etwas drastischer klar machen. Mit einer schnellen Bewegung wog er den verbliebenen Sand in der Hand, als wolle er ihn ihr jeden Augenblick ins Gesicht werfen. »Ich will jetzt endlich wissen, wo Arianrhod ist!«, herrschte er sie an.
»Ich tu ja mein Bestes.« Isana versuchte noch weiter zurückzuweichen und stieß dabei mit der Schulter gegen einen Felsblock, der den Eingang des steinernen Tals wie ein stummer Wächter bewachte. »Ich kann doch nichts dafür, dass hier alles so riesig ist! Wo genau Arri sein könnte, weiß ich auch nicht. Aber wenn du willst, helfe ich dir weiter auf der Suche!«
»Aber eigentlich willst du sie lieber vor mir warnen, nicht wahr?«, fragte Taru ärgerlich. »Du würdest mir am liebsten ein Messer ins Herz stoßen. Oder mich vergiften - das liegt euresgleichen ja im Blut, nicht wahr?«
Die junge Heilerin drückte sich noch näher an den steinernen Wächter - einen von vielen, denn hinter ihr im Tal standen mehrere dieser Kolosse zwischen Geröll und dürren Bäumchen, die in der herangewehten Erde verzweifelt zu wurzeln versuchten.
»Was ist?«, polterte Taru. »Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen? Willst du vielleicht leugnen, dass du mich am liebsten umbringen würdest?«
»Nein. Niemals. So etwas würde ich nie tun!«
»Du meinst: im Gegensatz zu Arianrhod?« Als er den Namen aussprach, stieg in Taru eine Woge bitteren Hasses hoch. Arianrhod. Diese falsche Schlange, die doch von Anfang an nichts anderes vorgehabt hatte, als Tod und Verderben über sein Volk zu bringen. Wie hatte sein Vater nur auf sie hereinfallen können?
»Arri ... ich meine: Arianrhod ... sie stammt von einem fremden Volk ab«, stammelte das Mädchen. »Ganz im Gegensatz zu mir. Ich gehöre doch zu euch!«
»Zu uns?« Taru spuckte die Worte fast aus. Er fühlte, wie sein Herz vor gerechter Empörung raste. »Zu wem gehörst du wirklich, Isana: zu der Drude, die sich bei uns ans wärmende Feuer geschlichen hat - aber nur, um es bei der ersten Gelegenheit zu ersticken? Oder zu dem Volk der Raker, das unendliche Strapazen auf sich genommen hat, um endlich Urutark zu finden?«
»Ich bin durch und durch Rakerin«, stammelte das Mädchen weiter. »Ich bin Isana, die Tochter von Kenan, dem Schmied.«
»Ja, du bist von wahrhaft ehrenvoller Abstammung. Schließlich ist dein Vater der beste Schmied im weiten Umkreis.« Tarus Blick blieb wie schon zuvor an den fertig gestellten Steinkolossen hängen, die so sorgfältig gefertigt worden waren, dass der sturmgepeitschte Regen der letzten Stunden von ihrer glatten Oberfläche einfach abgeperlt war. Er schüttelte den Kopf, verstand es einfach nicht. »Ich hoffe nur, du willst deinem Vater auch Ehre machen«, fuhr Taru fort. »Denn sonst könnte es leider sein, dass dir ein kleines Unglück widerfährt!«
Kapitel 22
In der Hütte, die an dem Berg klebte, als hätten ihre Erbauer sie von Anfang an so weit wie möglich vor den entfesselten Naturgewalten schützen wollen, herrschte drangvolle Enge. Der Sturm hatte heftigen Regen mit sich gebracht, der sich jetzt mit brutaler Heftigkeit entlud. Sicherlich war das Reetdach über ihnen früher einmal dicht gewesen. Doch mittlerweile wies es so viele schadhafte Stellen auf, dass der reine Zufall es bestimmte, wer in ihrer nicht ganz kleinen Gruppe zuerst mehr Spritzwasser abbekam als ein anderer.
Nass würden sie ohnehin werden.
Lexz stand an der Tür, spannte seine Muskeln an, und suchte nach einem möglichst festen Stand, um sie so gut es ging zuzudrücken. Das war alles andere als einfach. Die schweren Eichenholzbretter des Türblatts zitterten und bebten in seinen Händen wie die Flanken eines wilden Tieres, das sich nicht beruhigen lassen wollte. Aber es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als hier mit aller Kraft gegen den Sturm anzukämpfen, wollte er nicht riskieren, dass die Böen ins Haus hineinfuhren, um das Dach anzuheben, zu zerfetzen und mit wilder Gewalt die ganze Hütte zu zertrümmern. Entsprechend verzweifelt hielt sich Lexz in den Ritzen der Tür fest. Er hätte Hilfe gebrauchen können, aber von selbst kam niemand auf die Idee, ihn zu unterstützen: Und hätte er sich umgedreht, um über das Tosen hinweg nach seinen Gefährten zu rufen, so hätte er die zunehmend lauter stöhnende und ächzende Tür kurz loslassen müssen.
Das aber wagte er nicht.
Der Wind wechselte immer häufiger seine Richtung, und mehr als einmal wurde ihm die Tür von den heftigen Böen fast aus den Händen geschlagen. Jedes Mal, wenn sie ein Stück zurückprallte und er um sein Gleichgewicht kämpfen musste, sprang ihm der Regen mit brutaler Macht ins Gesicht und fuhr wie mit Peitschenhieben über seine Kleidung, bis sie vollkommen durchnässt war.
Und dann ließ das Tosen plötzlich ein wenig nach. Doch noch immer zerrte der Sturm an der Tür und den Wänden der Hütte, doch jetzt glich es eher einem Tasten, so als suche er sämtliche Schwachstellen zu erkunden, bevor er erneut mit voller Kraft zuschlug. Lexz traute dieser vermeintlichen Ruhepause nicht, denn von unten, vom Tal her, schallte das Heulen und Toben der Urgewalten nach wie vor zu ihnen hinauf. Doch er nutzte die Gelegenheit, um die Tür ein winziges Stück aufzuziehen und nach draußen zu spähen.
Die Heftigkeit des Unwetters hätte ihn eigentlich warnen müssen, aber als er durch den Türspalt ins Tal hinabsah, war er dennoch geschockt. Vorhin, als er neben Torgon gestanden und auf den schwarzen Horizont gestarrt hatte, hatte ihm dieser Anblick Unbehagen eingeflößt, vielleicht sogar Angst. Jetzt erfüllte er ihn mit noch einem anderen Gefühl, für das er im ersten Augenblick nicht einmal ein Wort fand.
Zu einem Gutteil war es die Furcht vor den entfesselten Naturgewalten, die sich aus allen Richtungen zugleich zu nähern schienen. Der Sturm beschränkte sich längst nicht mehr auf den kleinen Ausschnitt hinter ihnen, sondern schien die ganze Welt verschlingen zu wollen. Nur rings um die Hütten war ein zusehends kleiner werdender Teil der Welt noch vorhanden, und dahinter tobte eine von Wetterleuchten und grellen verästelten Blitzen zerrissene Schwärze, die viel mehr war als bloß die Abwesenheit von Licht. Es schien, als hätte das Unwetter einen Belagerungsring um sie gebildet, hinter dem etwas vielleicht Körperloses, aber trotzdem unvorstellbar Starkes und Fremdartiges herankroch.
Ekarna tippte ihm auf die Schulter, Lexz machte einen erschrockenen Satz zur Seite und ließ die Tür los. Das Grollen des Donners schien für kurze Zeit noch lauter zu werden, fast so, als wollte er ihnen eine Warnung zurufen oder sie verhöhnen. Der Wind schmetterte die Tür mit einem dumpfen Krachen wieder zu und verkeilte sie dabei so fest in dem Rahmen, dass sie dort eingeklemmt hängen blieb.
Die Frage war nur, wann der Sturm sie wieder anspringen und neuerlich aus der Halterung reißen würde.