»Hör endlich auf mit deinem falschen Spiel!«, zischte er. »Wenn du zu der Drude hältst, bist du des Todes - genauso wie sie selbst!«
Isana wirkte jetzt weniger erschrocken, als er erwartet hatte. »Ich halte nicht zu ihr. Warum sollte ich auch? Sie hat mich auf ihrer Flucht niedergeschlagen ...«, sie deutete mit der Hand auf ihre verletzte Gesichtshälfte, »und das, obwohl ich ihr auf Geheiß der Ältesten etwas zu essen gebracht hatte. Nein«, entschieden schüttelte sie den Kopf, »für mich gibt es nicht den geringsten Grund, diese falsche Hündin zu schonen.«
Taru zögerte. Isana wirkte durchaus aufrichtig, und trotzdem ... sowohl seine Erfahrung mit ihr als auch sein Instinkt warnten ihn. Irgendetwas stimmte mit diesem Mädchen nicht. »Du musst ehrlich zu mir sein«, sagte er gepresst. »Verstehst du das? Denn wenn du das nicht bist ...«
Er ließ den Satz unbeendet und klopfte stattdessen auf die Schleuder, die in seinem Waffengurt steckte - und mit der er auch noch auf zehn Schritte einen Vogel vom Baum schießen konnte, wenn das nötig war.
Isana beeilte sich zu nicken, und von dem dünnen Blutfaden, der nach wie vor aus ihrem Mundwinkel rann, spritzten dabei rote Tropfen auf. »Ja, natürlich. Das werde ich.«
»Dann sag mir, ob Arianrhod wirklich hierher geflohen ist«, verlangte Taru. »Oder ob das nur ein Trick war und sie in Wirklichkeit die Richtung gewechselt hat, kaum dass ihre Verfolger sie aus den Augen verloren haben.«
Ganz kurz blitzte so etwas wie Trotz in Isanas Augen auf, doch dann schluckte sie krampfhaft und nickte. »Ich kann es ja auch nur vermuten.« Sie wischte sich über den Mund und starrte auf den Handrücken, auf den sie Blut verschmiert hatte. »Aber ... ich weiß ...«
Sie stockte und wischte dann den Handrücken an ihrem Rock ab.
Taru hätte sofort nachgehakt, hätte er in diesem Augenblick nicht am Rande einer schlammigen Pfütze eine Spur im feuchten Untergrund entdeckt. Alarmiert ging er in die Hocke und fuhr ihren Rand mit dem Finger nach.
Ja. Das war einmal mehr eine Spur von Rar. Wenn er weitersuchen würde, fände er mit Sicherheit auch die leichteren Abdrücke von Abdurezak.
Die beiden waren also auch hier entlang gegangen. Blieb die Frage, wo sie jetzt steckten. Er hatte keine Lust, ihnen zu begegnen, bevor er mit Arianrhod abgerechnet hatte.
»Was weißt du?«, fragte er leise, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.
»Ich weiß, dass Dragosz ... dein Vater und Arri ... dein Vater und Arianrhod ... dass sie öfter hier waren«, sprudelte Isana hervor. »Sie ... sie wollten doch ein neues Heiligtum errichten ... und vielleicht wollte Arri ja wirklich ...«
»Dann werden wir uns hier ein bisschen umschauen.« Taru machte einen Schritt auf Isana zu, packte sie am Handgelenk und zog sie so grob mit sich, dass sie fast gestolpert wäre. »Arianrhod hat meinem Vater eingeredet, er müsse ein Heiligtum bauen, größer und gewaltiger als Goseg.« Taru verstärkte seinen Griff und zerrte sie unbarmherzig weiter. »Ich habe dieses Gerede einfach über mich ergehen lassen. Auch das über den Steinbruch, aus dem sie das Material für ihr neues Heiligtum holen wollten. Alles nur dummes Druden-Geschwätz. Trotzdem hätte ich mir das hier doch schon längst angesehen - aber wir haben ja Tag und Nacht an dem Pfahldorf gearbeitet, damit es bis zum Fest fertig wird. Danach wollte mich mein Vater hierher mitnehmen ...« Taru stockte mitten im Schritt, ließ Isanas Handgelenk los und sah zu den zerklüfteten Hängen hinüber, aus denen man gewaltige Gesteinsbrocken herausgebrochen hatte. Er wollte nach Arianrhod Ausschau halten - aber das war nicht möglich. Seine Augen schwammen plötzlich in einer Feuchtigkeit, die dort nicht hingehörte. »Ich wäre froh, mein Vater wäre jetzt auch hier.«
Der letzte Satz war ihm entschlüpft, bevor er ihn zurückhalten konnte. »Jetzt weiß ich auch, was er mit dem unglaublichen Fund gemeint hat, den er hier gemacht hat«, fuhr er rasch und viel zu laut fort, »und warum er mir nichts davon erzählen wollte. Ich hätte mir ohnehin nicht vorstellen können, wie gewaltig das hier alles ist.«
»Ja, das ist es«, pflichtete ihm Isana bei, während sie einen halben Schritt beiseitetrat und ihr Handgelenk massierte. »Es ist ein Ort, an dem alles geschehen kann. Jeder Anfang und jedes Ende.«
Taru seufzte leise und wandte sich ab, um nach oben zu starren, in die zerklüftete Felswand, die sich vor ihnen auftat. Er blinzelte, bis sich sein Blick einigermaßen geklärt hatte. Die Feuchtigkeit in Gegenwart des Mädchens aus den Augen zu wischen, wäre ihm wie eine unverzeihliche Schwäche erschienen. Und trotzdem ... irgendwie kam er mit den Gefühlen nicht zurecht, die jetzt - so kräftig wie ein aufflackerndes Feuer - in ihm aufstiegen.
Zu diesem Zeitpunkt wäre er gern allein gewesen. Die letzten Tage waren ihm so hart erschienen, und zwar in jeder Beziehung. Der Tod seines Vaters, die Totenzeremonie für alle Opfer Arianrhods, das letzte Abschiednehmen von seinem Vater, nachdem er sein Totenboot auf die letzte Reise geschickt hatte, und dann dieses unglückliche Zusammentreffen mit Amar in dem verlassenen Dorf, bei dem er ohne Zweifel an Boden verloren hatte - und dann kam auch noch das verheerende Unwetter dazu, das sie so vollkommen unvorbereitet getroffen hatte ... Es war ihm in dieser ganzen Zeit nicht möglich gewesen, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
Vielleicht war das auch ganz gut so. Denn dadurch war er gezwungen, schneller zu handeln als die anderen, die ihm sein Erbe streitig machen wollten. Denn jetzt brach eine neue Zeit an.
Seine Zeit.
Isana und Taru. Das war kein Traumpaar, das war viel eher eine Verbindung wie Feuer und Eis. Arri hatte nicht die geringste Ahnung, warum die beiden hier gemeinsam unterwegs waren. Aber sie fürchtete das Schlimmste: Isana hatte Taru schon immer mit bösen Bemerkungen geärgert, und Taru hatte ihr das nicht nur genauso zurückgezahlt, sondern wäre ihr schon des Öfteren am liebsten an die Gurgel gegangen. Das hatte nicht viel ausgemacht, solange Dragosz noch am Leben gewesen war, denn er hatte seinen Sohn mit einem Blick oder notfalls auch mit einem scharfen Wort zur Vernunft bringen können.
Doch jetzt, da sie vorsichtig in Richtung ihrer Höhle weiterkletterte, die sie inzwischen entdeckt zu haben glaubte, begann sich Arri große Sorgen um Isana zu machen. Taru war vollkommen unberechenbar. In ihm hatten Großzügigkeit und Leichtigkeit schon immer gegen eine düstere Seite gekämpft, die ihn dazu antrieb, schreckliche Dinge zu tun. Diesmal ging es jedoch nicht um ein paar Streiche oder einen kleinen Rachefeldzug, diesmal ging es um Tod und Leben.
Was geschah denn nun, wenn Taru Isana zwingen wollte, ihm auf der Suche nach seiner jungen Stiefmutter zu helfen? Was, wenn seine unbeherrschte Seite wieder einmal die Oberhand gewann und er Isana Gewalt antat, nur um sie, die verhasste Drude, zu treffen?
Diese Vorstellung ließ Arri alles andere vergessen und trieb sie dazu an, sich einfach nur auf die nächsten Schritte zu konzentrieren. Ohne Gewalt würde es diesmal nicht gehen, das spürte sie ganz deutlich. Sie musste unbedingt ihr Schwert holen. Nur mit seiner Hilfe konnte sie sich Taru entgegenstellen und Isana aus seinen Fängen befreien.
Statt sich also weiter in den Schutz der Felsnase zurückzuziehen, beugte sie sich nun erneut ein wenig vor. Dragosz und sie waren damals ein gutes Stück nach oben geklettert, bevor sie auf die Höhle gestoßen waren, die hinter allerlei Gestrüpp verborgen lag. Aber jetzt, da sie zum ersten Mal wie ein Vogel hinabblickte, erkannte sie, wie hoch sie sich eigentlich gewagt hatte.
So wurde sie mit einem grandiosen Ausblick auf das steinerne Wunder unter sich belohnt, der ihr wahrscheinlich unter glücklicheren Umständen aus ganz anderen Gründen als jetzt einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hätte. Wie übergroße Finger stachen Steinmonolithen in den Himmel empor, manche nur zur Hälfte aus dem Steinbruch herausgehauen und merkwürdig unfertig aussehend, andere wie Findlinge ohne jegliche Spur einer Bearbeitung, während eine Vielzahl der größten unter ihnen teilweise oder vollständig behauen waren. Einige waren mit Moos und Flechten bewachsen, die meisten glichen aber grauschwarzen Ungetümen, die so aussahen, als hätten sie die Götter als Mahnung an die Menschen in den Untergrund gerammt, um sich nur nicht allzu wichtig zu nehmen.