Arri hatte keine Ahnung, wie lange diese steinernen Zeugen einer vergangenen Menschheitsepoche hier schon standen und mit sturer Beharrlichkeit selbst den heftigsten Unwettern trotzten. Aber sie konnte sich durchaus vorstellen, dass sie sich hier immer noch dem Himmel entgegenrecken würden, wenn sie, Dragosz und die Raker selbst schon längst zu Staub verfallen und vergessen waren.
Der beeindruckendste Stein war jedoch derjenige, der wie der Kopf einer riesigen Krähe aussah. Von hier oben aus wirkte er täuschend echt, so als habe sich in dem Tal unter ihr ein riesiger schwarzer Vogel niedergelassen, der nun mit seinen großen schwarzen Augen alles unter Beobachtung hielt, was in seiner näheren Umgebung geschah. Als würde die schwarze Krähe in einem Nest hocken, so lag ihr massiger Körper dabei hinter weiteren Steinen verborgen, die ihn vom Boden aus gesehen nach fast allen Richtungen abschirmten.
Dass ihr Herz einen Satz tat, lag jedoch nicht an dem steinernen Vogelkopf, sondern daran, dass sie nun wieder ganz genau wusste, wo sie war: genau oberhalb ihrer Höhle.
Von hier aus erschien ihr der Eingang allerdings ganz anders, als wenn man von unten kam. Die Dornen des Gestrüpps wirkten spitzer und gefährlicher, das davon halb verdeckte schwarze Loch dahinter aber abweisend und feindlich. Selbst, wenn jemand von unten hier hinaufkletterte, wäre es fraglich, ob er sich die Kleidung an den Dornen zerreißen wollte, nur um in dieses dunkle Loch zu krabbeln, in dem alles Mögliche lauern konnte: Schlangen, Bären oder Höhlenlöwen.
Arri schreckte das jedoch nicht. Als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte sie Dragosz an ihrer Seite gehabt, und er hatte ihre Bedenken, in die Höhle zu klettern, nur mit einem breiten Grinsen beiseitegeschoben. In Dragosz’ Gegenwart hatte sie sich immer sicher gefühlt, und außerdem hatte sie an diesem Tag das Schwert bei sich getragen, das zwar sorgfältig in ein altes Fell eingeschlagen war, ihr bei dem geringsten Anzeichen einer Gefahr aber sogleich in die Hand gesprungen wäre.
Jetzt war sie allein und unbewaffnet. Doch in ihrem Herzen gab es keinen Platz für die Angst und Beklemmung, die angesichts einer dunklen Höhle eigentlich angebracht gewesen wäre. Ihr Herz war von Trauer und Zorn erfüllt.
In der Höhle lag ihr Schwert, die Waffe, die ihr beistehen würde, um erst Isana zu befreien und anschließend ihren Sohn aus dem Dorf zu holen. Mit der Höhle war die Erinnerung an Dragosz verbunden, an seine Entschlossenheit und Kraft, die nun in ihr selbst weiterlebte. Aber auch an seine Zärtlichkeit und Liebe. Und genau in dieser Höhle würde sie zusammen mit Kyrill den geeigneten Platz finden, um zu Kräften zu kommen und ein bisschen Zeit verstreichen zu lassen, bevor sie irgendwo anders einen Neubeginn wagen konnte.
Isana hatte recht. Taru wollte Dragosz’ Nachfolge antreten. Und dabei stand ihm vor allem sein kleiner Halbbruder im Weg: der Sohn seiner verhassten Stiefmutter.
»Kyrill, ich werde dich holen«, flüsterte sie. »Erst befreie ich Isana und dann hole ich dich da raus und bringe dich an einen sicheren Ort.«
Orakar hob die Hand und bedeutete den anderen mit einer raschen Bewegung, hinter den nächsten Felsen auf der wild zerklüfteten Hügelseite in Deckung zu gehen. Er glaubte, nein, er war sich ganz sicher, etwas gehört zu haben - etwas, das wie ein Fluch klang, den man ausstoßen mochte, wenn man bei einer Kletterpartie ausrutschte und den Halt zu verlieren drohte.
Mit einer raschen Bewegung holte er das kleine Kupferrohr hervor, das ihm der Hohepriester mitgegeben hatte, und setzte es ans Auge. Er hatte das Sehrohr bislang selten benutzt, aber gerade jetzt, bei dem unruhigen Licht der untergehenden Sonne, das an einzelnen Stellen durch die dicke Wolkendecke brach, war es vielleicht tatsächlich einmal zu gebrauchen.
»Was ist?«, flüsterte Gorak. »Kannst du durch dieses seltsame Rohr wirklich mehr erkennen, als wenn du einfach die Augen mit der Hand überschattest?«
Orakar zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Die Hohepriester benutzen das Sehrohr schon seit Generationen, um in der Nacht die Sterne zu beobachten.«
»Ja, ich weiß«, Gorak schob sich ein Stück näher an Orakar heran und stützte den Ellbogen auf dem Felsvorsprung auf, der ihnen Deckung gewährte. »Aber dies hier ist keine Saat- oder Ernte-Zeremonie, und wir haben auch keine sternenklare Nacht ...«
»Psst«, machte Orakar, rutschte ein Stück vor und blieb mit dem Ärmel seines Umhangs hängen, wodurch sein Arm ein Stück nach unten gerissen wurde und das Sehrohr über eine Blüte wischte. »Verflucht ... da war doch gerade etwas.«
Gorak hatte die Augen beschattet und blickte in das Tal hinunter, in dem die großen Monolithen standen, als wären sie erst vor kurzem dort abgestellt worden. Der wieder aufgefrischte Wind fuhr in das spärliche Gestrüpp und hielt die kleinen Bäume in einer unruhigen Bewegung - möglich, dass sich da auch noch etwas anderes befand. »Hast du jemanden gesehen?«, fragte er.
»Ich bin mir nicht sicher ... bei den großen Pfützen war schon irgendwas. Aber da versperrt mir ein Stein den Blick.« Gorak wollte aufspringen, um sich davon zu überzeugen, aber Orakar hielt ihn am Arm fest. »Nicht. Wir müssen vorsichtig sein ...« Er warf einen Blick zurück, auf die Männer, die sie begleiteten - kampferprobte Leute, die sie für die gefährliche Mission, die ihnen bevorstand, angeworben hatten.
Allesamt waren es Männer, die an derselben Krankheit litten, jener, die Nor auch schon beinahe in die Knie gezwungen hatte. Orakar wusste nicht mehr über dieses Leiden und seine entstellenden Folgen, als unbedingt nötig schien. Aber immerhin war er in das Geheimnis der Himmelsscheibe eingeweiht. Sie mussten sie finden, koste es, was es wolle. Nur mit ihr war Heilung möglich: für Nor und die Männer in den schwarzen Kapuzenmänteln, und auch für die unzähligen anderen, die im Gebiet um den See herum gelebt hatten und nacheinander alle von der Krankheit befallen worden waren.
»Mir machen die Barbaren Sorgen«, gestand Gorak. »Zuerst war es nur eine Handvoll von ihnen, die hier aufgetaucht ist. Mittlerweile sind es aber viel mehr.«
»Ja, wir müssen sie unbedingt im Auge behalten«, pflichtete ihm Orakar bei. Er hätte auch noch mehr dazu sagen können. Aber das wollte er jetzt nicht.
»Ich verstehe das nicht«, setzte Gorak nach. »Als ich vor kurzer Zeit in Goseg war, habe ich jemanden durch den hinteren Ausgang, also durch die Palisaden, weghuschen sehen. Er hatte einen Umhang übergeworfen. Aber ich habe ganz deutlich erkennen können, dass er zu den Barbaren gehört hat. Er hatte einen langen, ungepflegten Bart, der gewiss noch kein Rasiermesser gesehen hatte. Und unter dem Mantel trug er keine solche Kleidung, wie wir sie tragen, sondern er war in Fell gekleidet.«
Orakar seufzte und setzte das Sehrohr wieder an. »Ja, es wird Zeit, dass wir das zu Ende bringen. Es ist nicht gut, wenn die Mächtigen von Goseg zerstritten sind ...« Er unterbrach sich selbst und hob die Hand. »Sag den Männern Bescheid«, zischte er. »Es geht los. Nor ist endlich aufgetaucht! Unglaublich ... er hat den Weg bis hierhin tatsächlich geschafft!«
»Also gut, Leute«, Gorak drehte sich zu den anderen um. »Ab jetzt dürft ihr niemanden - aber ganz gewiss überhaupt niemanden mehr - bis zur Schmiede durchkommen lassen!«