Kapitel 23
Sowohl das Donnergrollen als auch das Heulen des Sturmes waren im Inneren des Stollens zu einem wehklagenden Laut geworden, der schmerzhaft in ihren Ohren nachhallte. Die abgestandene, muffig riechende Luft, die ihnen entgegenschlug, wurde kräftig durcheinandergewirbelt, was es aber leider auch nicht besser machte. Der scharfe Luftzug zerrte an ihrer Haaren und ihrer Kleidung, mit seinem Jammerton aber auch an ihren Nerven. Als die zusammenbrechende Hütte in ihrem Rücken schon nach erschreckend kurzer Zeit von den entfesselten Naturgewalten zerfetzt wurde, blies ihnen eine Sturmbö Splitter und eine erstickende Staubwolke in den Stollen hinterher. Lexz taumelte, als er von mehreren heftigen Windstößen getroffen wurde, und wäre fast zu Boden gegangen.
Danach wurde es etwas erträglicher.
Wunderbar, dachte Lexz, wenn wir hier gleich irgendwo rauskommen, wo wir nicht sofort wieder umgeweht werden.
Es sah aber nicht danach aus, als ließe sie der Stollen so schnell wieder frei. Die Vorstellung, weiter in die steinerne Unterwelt hinabzusteigen, die sie wie störende Fremdkörper vollständig verschlucken wollte, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er hasste dunkle Höhlen, und noch viel unheimlicher waren ihm enge und stickige Gänge und Stollen, die ihm das Gefühl gaben, in einer Gruft unterhalb eines großen Steinkreises lebendig begraben zu sein.
»Weiter jetzt«, trieb ihn Ekarna an, als er eher langsamer als schneller wurde und sie mal wieder beinahe vor ihm selbst merkte, was mit ihm los war. »Wir müssen an den anderen dranbleiben. Sonst wird es gleich stockfinster.«
Damit hatte sie leider recht. Er versuchte das Schwindelgefühl zu verscheuchen, das ihn schon beim Betreten des Stollens überfallen hatte, und war bemüht, aus seinem unsicheren Torkeln etwas zu machen, was entfernte Ähnlichkeit mit einem energischen Vorwärtsgehen hatte. Das spärliche und völlig ungenügende Fackellicht zeichnete huschende Schatten auf die rauen, unbehauenen Wände, die teilweise so eng zusammenliefen, dass sie sich regelrecht hindurchquetschen mussten, um dann wieder auf doppelte, manchmal dreifache Mannesbreite auseinanderzuweichen. Lexz hatte keine Ahnung, was dies hier sein sollte. Es sah weniger wie der Eingang zu der Höhle aus, als vielmehr wie ein Bergwerksstollen. Aber er verstand viel zu wenig davon, um das wirklich beurteilen zu können.
Erst nach einer Weile begriff er, dass sich die einzige Fackel, die es hier gegeben hatte, in Abdurezaks Händen befand. So alt und gebrechlich der Älteste auch wirkte, so kräftig schritten er und sein nicht minder alter Bruder jetzt aus. Vielleicht kam es Lexz aber auch nur so vor, weil sie und die anderen bereits einen ganz schönen Vorsprung hatten und er sich mehr Zeit ließ, als gut war - und damit nicht nur sich, sondern auch die Raubkatze ausbremste, die ohne ihn gewiss schon längst zu den anderen aufgeschlossen hätte.
Sein Wunsch, diese unerträgliche Enge möglichst bald hinter sich lassen zu können, erfüllte sich leider nicht, ganz im Gegenteil. Es schien endlos so weiterzugehen, mal ein bisschen nach oben, dann wieder abwärts, mal mit einem leichten Knick nach rechts, öfter aber mit einem kräftigen Ruck in die entgegengesetzte Richtung. Ab und zu wand sich der Gang sogar wie eine Schlange, die sich durch einen Steingarten hindurchschlängeln musste. Immer wieder kamen sie an Abzweigungen vorbei, die in ganz andere Richtungen führten, und dann wieder passierten sie recht dünne, glatt gescheuerte Tunnel, die aussahen, als hätten sich riesige Würmer durch sie hindurchgeschlängelt.
Mit der Zeit ergriff ein unwirkliches Gefühl von ihm Besitz, das nicht schwächer werden wollte, sondern ganz im Gegenteil mit jedem Schritt noch an Stärke zunahm. Auf sich allein gestellt, hätte sich Lexz hoffnungslos verirrt, aber auch so hatte er das Gefühl für die Richtung bald vollständig verloren. So stolperten sie scheinbar endlos weiter, und er konzentrierte sich nur noch auf den Augenblick und die plötzlich gar nicht mehr so einfache Herausforderung, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um auf dem schlüpfrigen Boden nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Die Luft wurde immer schlechter und stickiger - und das Atmen zunehmend zur Qual. Längst schon war der Sturm hinter ihnen erst zu einem fernen Säuseln verklungen, um dann schließlich ganz zu verstummen. Das bedeutete allerdings nicht, dass er auf der anderen Seite des Berges nicht auf sie lauern konnte, um dann dort an der Schmiede, von der Zakaan gesprochen hatte, mit vernichtender Wucht über sie herzufallen.
Lexz empfand es als zunehmend bedrückend, immer tiefer in den Berg eindringen zu müssen. Es kam ihm so vor, als drängten sie mit jedem Schritt weiter in einen Bereich vor, in dem Menschen eigentlich nichts zu suchen hatten. Er glaubte das Alter des Gesteins spüren zu können, das sie umschloss, als wollte es sie niemals wieder freigeben. Was waren Menschen denn schon - im Vergleich zu einem Berg, den es seit Anbeginn der Zeiten gab und den es auch noch geben würde, wenn ihre Gebeine schon längst vermodert waren?
Früher hatten die Menschen geglaubt, in jedem Berg wohne ein Gott sowie Heerscharen von Dämonen, die die unterschiedlichste Gestalt annehmen konnten: die von kleinen und großen Tieren, die tief verborgen im Dunkeln lebten und sich von dem Schmerz und Leid der Menschen in ihrer Umgebung nährten, aber auch von fröhlichen, unterstützenden Geistern.
Während er hier entlanglief, konnte er es verstehen, wie es zu diesem Glauben gekommen war. In den alten Zeiten hatten die Menschen in Höhlen gelebt, die sie sich mit großen und kleinen Tieren hatten teilen müssen. Wie hätte man da glauben können, dass dies alles ohne Bedeutung sei? Wie hätten ihre Ahnen etwas anderes glauben sollen, als dass alles miteinander zusammenhinge, auf geheimnisvolle Art, und dass es letztlich immer nur der Berg mit seinen schützenden Höhlen war, der ihnen Schutz vor den Unbilden der Witterung gewährte?
Zur Zeit der Stammväter war die Welt an Schnee und Eis fast zugrunde gegangen, und vor auch schon langer Zeit dann wieder neu erblüht - und die Menschen hatten den Glauben an die Allmacht des Berges verloren, als sie sich in festen Häusern inmitten blühender Felder hatten niederlassen können. Sie hatten sich anderen Göttern zugewandt, die mehr mit dem zu tun hatten, was ihren Alltag jetzt bestimmte. Mittlerweile wurden sie absurderweise von Wärme und Trockenheit bedroht, und jetzt kamen auch noch solche Stürme und Unwetter eines unglaublichen Ausmaßes hinzu. Vielleicht war es ja an der Zeit, sich auf die Kraft des Berges zurückzubesinnen.
Aber ist es nicht so, dass sich immer und immer alles wiederholt - so wie die Pflanzen in der kalten Jahreszeit verblühen und verwelken, um sich dann mit den Sonnenstrahlen des nächsten Frühjahrs wieder zu voller Pracht zu entfalten?
Es war Zakaans Stimme, die Lexz in seinen Gedanken hörte, und dies war mehr als seltsam - schließlich lief der Schamane nur ein kleines Stück vor ihm den gleichen Gang entlang wie er selbst.
Lexz’ Gedanken verwirrten sich zunehmend, je mehr Abzweigungen der Gang machte. Er glaubte zu spüren, wie manches von all den Ereignissen, die im Laufe unzähliger Generationen an diesem Gang vorübergezogen waren, an seinem Gestein haften geblieben war. Ja, er war sich ganz sicher: Das Gestein um ihn herum hatte die Gefühle und Gedanken all der unzähligen Generationen, die hier in seiner Umgebung gelebt hatten, aufgesogen und gespeichert. Wie ungebetene Gäste waren Wünsche, Hoffnungen und Träume hier eingezogen, genauso aber auch Wut, Schmerz und Enttäuschung. All dies bildete ein Gemisch, in das er nun wie in ein Gewässer eintauchte, das ihn ganz vereinnahmen wollte, um ihn mit auf seinen Grund zu ziehen.
Erst, als Ekarna Lexz’ Hand ergriff und ihn ohne ein Wort der Erklärung mit sich zog, fiel ihm auf, dass er im Begriff gewesen war, hinter den anderen zurückzubleiben. Es wurde allmählich noch zur schlechten Angewohnheit, dass sie ihn so behandelte, als ob er nicht allein zurechtkäme, fand Lexz. Mit einer eher müden als ärgerlichen Bewegung machte er sich also frei und gab sich Mühe, zu der Gruppe vor ihnen aufzuschließen.