»Du kannst mich jetzt wieder loslassen«, sagte Ekarna schließlich, und obwohl sie noch immer am ganzen Körper zitterte, gehorchte Lexz sofort.
Sein Fuß kam auf einem halbtoten Grottenmolch auf, der ein langes, schreckliches Geräusch von sich gab. Und er rutschte ein Stück auf ihm weiter, bevor es ihm endlich gelang, von dem sterbenden Tier wegzukommen. Übelkeit stieg in galligen Schüben in ihm auf, und er musste sich an der Wand festhalten, um nicht umzukippen.
Soweit er es in dem Halbdunkel erkennen konnte, war der Boden mit toten oder sterbenden Molchen übersät. Er verstand das nicht. Gewiss, in manchen Höhlen lebten Dutzende von Tieren. Das hier aber mussten Hunderte, wenn nicht gar Tausende gewesen sein. Woher kamen sie, und wo wollten sie hin?
Ekarna griff nach seiner Hand. »Komm jetzt«, sagte sie. »Wir müssen weiter.«
Als er nicht gleich darauf reagierte, fügte sie hinzu: »Siehst du nicht das Licht, wo die anderen langgegangen sind? Das ist nicht die Fackel. Da geht es raus!«
Der Abstieg ins Tal erfolgte schneller, als Arri erwartet hatte. Aber eigentlich war das auch kein Wunder. Sie war mit Dragosz ja schon mehrfach von der Höhle ins Tal zurückgeklettert, und mittlerweile kannte sie jeden Strauch und jede Unebenheit gut genug, um mit sicherem Tritt auf die richtigen Stellen zu treten und sich dabei mit den Händen an den dafür geeignetsten Stellen festzuhalten.
Immerhin war sie jetzt bewaffnet.
Ihr erster Gedanke, nachdem sie das kostbare Schwert ihrer Mutter in der Höhle gefunden hatte, hatte Isana gegolten. Ihre erste Empfindung war jedoch Furcht gewesen.
Sie hatte Angst, zu spät zu kommen. Sie hatte Taru ja selbst erlebt. Ohne Dragosz’ starke Hand im Rücken benahm sich Taru noch viel unvorhersehbarer, als sie sich das zuvor jemals hatte vorstellen können. Er hatte sich für die dunkle Seite in sich selbst entschieden, und Arri fürchtete nun, dass er auf dem besten Weg war, alle Hemmungen zu verlieren und sich nur noch mit Mord und Totschlag durchzusetzen. Arris Phantasie überschlug sich dabei geradezu, ihr die schrecklichsten Bilder vorzugaukeln: Taru, wie er Isana an den Schultern packte, durchschüttelte, wieder von sich stieß, ihr ein paar kräftige Ohrfeigen verpasste, bis ihr Kopf nur noch so hin und her flog.
»Sag mir endlich, wo Arri ist!«, würde er brüllen. »Sag es mir, bevor ich mich vergesse und dich gleich hier und jetzt totschlage!«
Arri sprang von dem letzten Absatz hinab und kam federnd auf dem Boden auf. Dann warf sie einen schnellen, sichernden Blick in die Runde. Die Monolithen kamen ihr zu diesem Zeitpunkt wie riesige Krieger vor, die gleich ihre Waffen ziehen und sich auf sie stürzen wollten.
Was für ein Gedanke! Sie war als Heilerin zu den Rakern gekommen, und jetzt dachte und empfand sie wie eine Kriegerin. Während sie vorwärtsstürzte, in die Richtung, in der Taru und Isana verschwunden waren, musste sie merkwürdigerweise an Nors Besuch in der Hütte ihrer Mutter im Fischerdorf denken. Sie erinnerte sich an das dumpfe Klock Klock seines Stockes, als er sich nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Lea auf und davon gemacht hatte.
Vielleicht erinnerte sich Arri gerade jetzt daran, weil ihre Mutter sie kurz darauf in das Geheimnis des Schwertes eingewiesen hatte, das sie gerade schlagbereit in der Hand hielt.
»Dieses Schwert birgt weitaus mehr Antworten, als du dir vorstellen kannst, Arianrhod«, hatte sie gesagt. »Du wirst aber einen langen Weg gehen müssen, um seine wahre Macht zu begreifen.«
»Ja, Mutter«, flüsterte Arri und sprang leichtfüßig über einen Stein hinweg und eilte weiter. »Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, wie du deine Worte gemeint hast. Vielleicht zu lange. Aber jetzt weiß ich, dass ich kämpfen muss.«
Sie erinnerte sich noch gut daran, dass ihre Mutter es niemandem gestattet hatte, dieses Schwert zu berühren, auch ihr nicht. Arri hatte es dann aber doch ein einziges Mal getan, vor vielen Sommern. Damals war sie noch so klein gewesen, dass sie nicht nur auf den wackligen Stuhl, sondern auch auf seine Lehne hatte hinaufklettern müssen, um das Schwert überhaupt zu erreichen. Lea war hereingekommen, bevor ihre Finger das sonderbar gefärbte Metall hatten berühren können. Wütend und aufgebracht war sie gewesen.
Arri selbst hatte es zwar gar nicht gesehen und hatte auch niemals gewagt, ihre Mutter danach zu fragen. Doch sie wusste von den anderen aus dem Dorf, dass Lea einmal zwei Männer getötet hatte, als diese versuchten, ihr das Schwert zu stehlen.
Und dann hatte ihre Mutter es ihr eines Tages doch gestattet, das Zauberschwert zu berühren.
»Fass es an«, hatte sie nach dem Besuch Nors in ihrer Hütte gesagt und ihre Worte mit einem Nicken bekräftigt. »Aber sei vorsichtig. Es ist sehr scharf.«
Taru spürte eine Erregung in sich, die weit über das hinausging, was er je zuvor auf einer Jagd empfunden hatte. Vielleicht lag es daran, dass er diesmal ein ganz besonderes Wild jagte.
Eine Drude.
»Eine neue Zeit beginnt, Isana«, sagte er zum wiederholten Mal. »Meine Zeit.«
Isana schien noch mehr zu schrumpfen.
»Mein Vater hat uns nach Urutark geführt. Und ich werde hier jetzt eine neue Dynastie begründen. Und auch ich werde es sein, der bestimmt, was mit diesen Riesensteinen hier geschieht.« Er machte eine großzügige Handbewegung, die das ganze Tal umschloss. »Wenn diesen Steinen hier ein alter Zauber innewohnt, dann werde ich ihn zu nutzen wissen. Und jetzt komm mit - sehen wir zu, dass wir endlich eine Spur von Arianrhod finden.«
Ohne auf eine Antwort zu warten ging er auf den Pfad zu, der aus dem Tal hinaus und über einen steinernen Weg in Richtung der Felsen führte, von denen die mit einem Pfeil durchbohrte Krähe abgestürzt war. Es musste schon mit bösen Geistern zugehen, wenn er dort oben nicht eine Spur von Arri fand.
Während er seine Schritte beschleunigte, tat er so, als achte er nur auf ihre Umgebung und nicht auf das, was Isana tat. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Er spürte ihr Zögern und ihren Widerstand. Gerade, als er ungeduldig werden wollte, hörte er, wie sie ihr verschmutztes Gewand ordnete, und dann schickte sie sich an, ihm in einem leichten Stolperschritt zu folgen, ganz so, als sei ihre Aufmerksamkeit durch etwas anderes abgelenkt.
Jetzt hielt sie nach Arianrhod Ausschau, da war er sich ganz sicher. Die Frage war nur: Würde sie die Drude auch zu warnen versuchen, wenn sie sie sah? Oder würde sie ihre Pflicht tun und sie ihrem neuen Herrscher melden?
»Nicht ganz so langsam«, rief Taru, während er einer Mulde auswich, in der das fast schwarz glänzende Regenwasser stand, »ich will mir diese Giftmischerin noch vor Anbruch der Dunkelheit schnappen.«
»Ja, natürlich.« Isana beschleunigte ihren Schritt, doch dadurch kamen sie kaum schneller voran. Der Regen hatte den Boden aufgeweicht, wo auch immer er ihn hatte aufweichen können; im Ufersand war das Wasser schnell wieder versickert. Hier aber verhielt es sich anders. Der Untergrund bestand aus Gestein, das nur spärlich mit Erde bedeckt und von der Witterung an vielen Stellen ausgewaschen war. Mulden hatten sich gebildet, die das Wasser, das sie einmal aufgenommen hatten, nicht mehr so einfach wieder hergaben.
Taru machte einen langen Satz, um über eine Pfütze zu springen, kam schräg mit dem Fuß auf und rutschte ein Stück zurück, bis ihm nichts anderes übrig blieb, als mit dem Fuß ins Wasser einzutauchen, wollte er nicht den Halt verlieren. Er sank bis weit über den Knöchel ein, bekam gerade so noch ein dürres Bäumchen zu fassen - und rutschte dann doch weiter, als das Bäumchen nachgab und sich ihm entgegenneigte: wie ein altes Weib, das den Halt verlor und in den Matsch zu fallen drohte.
Er drehte sich einmal um die eigene Achse, spannte sich an ... und als sein Blick dabei über die Felswand glitt, sah er dort etwas metallisch aufblitzen ...
Dann stürzte er in den Matsch.