Wachsende Wut, brodelnder Hass, das war die einzige Reaktion, die Dragosz dafür verdient hatte. Er hatte seinem Vater alles genommen, und damit auch allen, die zu ihm gehalten hatten. Als Jüngstgeborener war es sein Recht gewesen, die Führung über sein Volk zu übernehmen - doch seinem mehr als zehn Sommer älteren Bruder hätte ein Platz an seiner Seite gebührt. Schlimmer noch, es hatte eine alte Verabredung zwischen Ragok und Dragosz gegeben, die Raker gemeinsam in bessere Zeiten zu führen. Dragosz hatte diese Verabredung wie einen alten, trockenen Zweig gebrochen. Er war zu keiner gemeinsamen Lösung durch eine Vermittlung des Ältestenrates und des Schamanen bereit gewesen. Er hatte noch nicht einmal zu verstehen versucht, warum sein Vater und ein Großteil ihres gemeinsamen Volkes nicht mit ihm ziehen wollten. Er war auch zu keiner Geste der Demut oder gar der Einsicht bereit gewesen. Und damit hatte er indirekt sogar das Todesurteil über seinen Neffen Nakur gefällt, den einzigen Bruder von Lexz, mit dem er sich stärker verbunden gefühlt hatte als mit jedem anderen Menschen.
Dafür verdiente er die härteste Strafe, die die Stammväter für diese Fälle vorgesehen hatten.
Den Opfertod.
Ein Zweig peitschte in Lexz’ Gesicht, dann riss der Ausläufer eines Astes einen blutigen Streifen in seine Wange, und nur wenige Schritte weiter drohten sich seine Füße in einem Dornengebüsch zu verfangen. Keuchend hielt er an. Der Bereich des Waldes, in den er gerade wie besinnungslos gelaufen war, wirkte dichter und dunkler als der Teil, den er vor der Lichtung durchquert hatte. Das war gar nicht gut. Immer wieder hatte der Schamane von ihm verlangt, er solle sich nicht von seiner Wut zu etwas hinreißen lassen, was er später bereuen konnte.
Es wurde Zeit, dass er zur Besinnung kam. Schließlich war er hier nicht allein. Vor zwei Tagen hatte er mit Larkar am Feuer gesessen und darüber gesprochen, welche Route sie wählen sollten, um die Gegend zu erkunden, in der Dragosz zusammen mit seiner Horde Abtrünniger eine neue Heimat gefunden haben sollte. Larkar und er waren nicht nur gleich alt, sie waren auch unzertrennlich: Larkar, der Speerträger, und Lexz, der Bogenschütze. Wie oft sie sich schon gegenseitig das Leben gerettet hatten, hätte Lexz gar nicht mehr sagen können.
Beim letzten Mal war es Larkar gewesen, der Lexz in einem Kampf gegen mehrere Männer beigesprungen war. Er hatte einen von ihnen mit seinem Speer aufgespießt und einem anderen den Ellbogen so heftig ins Gesicht gestoßen, dass er blutüberströmt zurückgetaumelt war. Lexz hatte aus den Augenwinkeln gesehen, wie ein dritter Mann mit gezogenem Schwert von hinten angegriffen hatte, und er hatte versucht, dazwischenzugehen: aber zu spät. Der Kerl hatte Larkar das Schwert in den Leib rammen wollen, und als dieser im allerletzten Augenblick noch zurücksprang, hatte jener wenigstens einen vernichtenden Streich gegen seine Beine geführt.
Seitdem humpelte Larkar.
Und das war auch der Grund, warum er jetzt nicht an seiner Seite war.
»Verdammt!« Lexz fuhr herum und starrte so weit zurück, wie er es konnte - was nicht sehr weit war, denn die Bäume standen hier dicht und ihre Äste und Zweige bildeten ein natürliches Spalier, das er zwar mühelos hatte durchbrechen können, das ihm jetzt aber die freie Sicht nahm.
Niemand war zu sehen, natürlich nicht. Der dicke Torgon war zwar wesentlich schneller, als seine Körperfülle vermuten ließ, und Sedak und Ekarna konnten es im Laufen auf freier Strecke durchaus mit ihm aufnehmen - aber schließlich bestimmte Larkar, der humpelnde Speerträger, das Tempo der Gruppe.
»Larkar!«, rief Lexz so laut, dass es ihn beinahe selbst erschreckt hätte, »wo bist du?«
Irgendwo raschelte es, als ein Tier davonstürmte, als habe es Angst, er könne es mit seiner Stimme erlegen. Und von den Zweigen einiger nahe stehender Bäume stob etwas auf, das fast wie eine Schar Fledermäuse aussah. Ärgerlich ballte Lexz die Faust. Vorzulaufen war schon ein Fehler gewesen, und quer durch den Wald den Namen seines Freundes zu rufen, als könne hier kein anderer unterwegs sein als sie selbst, das war ein zweiter und wahrscheinlich sogar noch größerer Fehler gewesen.
Was, wenn Dragosz’ Leute gehört hatten, wie er einen der üblichen Raker-Namen in das Dickicht hineinbrüllte? Dann wussten sie nicht nur, dass hier jemand außer ihnen im Wald unterwegs war, sondern gleich auch noch, dass es Raker waren - und den Rest konnten sie sich dann denken. Großartig.
Torgon, der von seinem Vater zu so etwas wie seinem Aufpasser bestimmt worden war, würde ihm die Ohren dafür langziehen. Und das zu Recht. Dragosz und seine Leute durften auf keinen Fall wissen, dass sie ihnen auf den Fersen waren. Lexz konnte sich lebhaft vorstellen, was geschehen würde, wenn sein Vater davon erfuhr.
Aber vielleicht hatte ihn ja niemand gehört. Dann würde ihn Torgon nur für seinen unbeherrschten Waldlauf schelten. Und Lexz würde das einmal mehr über sich ergehen lassen und sich dabei zum wiederholten Mal fragen, wie es der Dicke trotz größter Hungersnot bis auf den heutigen Tag geschafft hatte, seine Leibesfülle fast auf dem alten Stand zu halten - und ob er nicht mit einer entsprechenden Anspielung von seinem Leichtsinn ablenken konnte.
Lexz’ Wut war noch nicht ganz verraucht, das konnte sie auch gar nicht sein, dafür saß sie viel zu tief. Aber immerhin hatte er sich weit genug beruhigt, um seine Erregung wieder einigermaßen im Griff zu haben. Eigentlich hätte er den anderen entgegenlaufen müssen, aber das hätte bedeutet, Fehler zugeben zu müssen, die ja vielleicht doch vollkommen bedeutungslos waren. Und es war gegen seine Natur. Besser, er wartete hier ab, bis die anderen zu ihm aufgeschlossen hatten, und versuchte in der Zwischenzeit herauszubekommen, ob sie überhaupt noch in der richtigen Richtung unterwegs waren: Dann konnte er immerhin behaupten, er wäre vorausgelaufen, um den kürzesten Weg aus dem Urwald heraus zu finden.
Er legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Ganz so, wie er erwartet hatte: Der Himmel war von hier aus kaum zu sehen, und damit auch nicht die Sonne, an deren Stand sie sich im freien Gelände zuverlässig hatten orientieren können. Sie mussten weiter nach Norden, in die Richtung, in der irgendwann einmal das große Meer kam, da waren sie sich sicher. Irgendwo zwischen ihnen und dem Meer musste dann die Seenplatte beginnen, zu der Dragosz in der Hoffnung geflohen war, ihnen damit dauerhaft entgehen zu können. Aber da kannte er Ragok schlecht. Die Alte Geierkralle würde ihre Klauen in sein Fleisch schlagen und ihn für das büßen lassen, was er mit dem Verrat an seinem eigenen Volk ausgelöst hatte: den Tod so vieler Menschen während der Wanderung.
Und auch den seines jüngsten Sohnes!
Der Blick nach oben gab Lexz’ Wut neue Nahrung. Regen, das war alles, was sie gebraucht hätten. Der Schamane hatte alles getan, was er hatte tun können, jeden Zauber beschworen, jeden Flehspruch tausendmal gesprochen, sich selbst gegeißelt, bis sein Rücken eine einzige blutige Masse war. Anschließend hatte Zakaan die großzügigen Opfergaben der Gemeinschaft in aller Feierlichkeit dem heiligen Feuer übergeben, und sie alle zusammen hatten die Göttin der Fruchtbarkeit angefleht, sie doch endlich zu erlösen. Sie hatten das Feuer umtanzt, in dem ihr letztes Schwein als Opfergabe an Asad und Ygdra in sich zusammenschmolz. Das Fett war ins Feuer getropft, das brennende Fleisch hatte seinen starken Geruch verströmt, und sie waren fast wahnsinnig vor Hunger geworden ...
Und während dieser ganzen Zeit waren die Regenwolken hierhin gezogen, und hatten ihre schwere Last über diesem Teil des Landes abgeliefert? Hatte die mächtige Göttin der Fruchtbarkeit von Anfang an nichts anderes vorgehabt, als den Haufen verzweifelter, hungernder Menschen zu verhöhnen, die sie inständig um das lebenspendende Nass angefleht hatten?
Lexz ballte die Hände so heftig zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervorstachen. Dragosz. Es war alles Dragosz’ Schuld. Er hatte etwas Schreckliches getan, und Asad hatte sein Volk für diesen Frevel bestraft.