Nor nickte auf eine eckige, unaussprechlich hässliche Art. »Das kannst du und sollst du sogar tun. Bring sie mir - sie als Erste. Damit sie mir helfen kann!«
Bevor Lexz etwas dazu sagen konnte, richtete sich Abdurezak auf der anderen Seite des Raumes mit einer hastig und fast bedrohlich wirkenden Bewegung auf.
»Ich habe von Kenan gehört, dass sie gleich nach dem Unwetter verschwunden ist«, sagte der Älteste besorgt. »Er ist mit ein paar Leuten und den Hunden unterwegs und sucht sie gerade. Aber vielleicht hast du ja eine Idee, wo sie sein könnte, Lexz - immerhin scheinst du sie näher zu kennen!«
Lexz fühlte, wie ihn ein schaurig-heißer Schreck durchfuhr. Ganz abgesehen davon, dass es nicht lange gedauert hatte, bis Abdurezak von der Geschichte mit Isana gehört hatte - wahrscheinlich von Ekarna, die neben ihm saß und jetzt, als er sie ansah, ausdrücklich in eine andere Richtung blickte-, war es doch wunderbar zu hören, dass Isana ihren Entführern offensichtlich unbeschadet entkommen war.
»Und wie ist sie Amars Männern entkommen?«, fragte er Abdurezak ungeduldig.
»Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, ging es ihr ganz gut«, antwortete Abdurezak unglücklich. »Seit dem Sturm wird sie aber eben vermisst.«
»Aber wieso denn ...?«
»Wüsste ich das Wieso, wüsste ich wahrscheinlich auch, wo sie ist«, brummte Abdurezak. Ihm schien das Thema unangenehm zu sein. »Aber was ich schon mehr als seltsam finde, ist, dass ich so gar nichts von einer Entführung durch irgendwelche Höhlenmenschen weiß. Sie hat uns nicht das Geringste davon erzählt!«
Lexz starrte ihn fassungslos an. Er wusste nicht einmal, was er in diesem Augenblick dachte. Wahrscheinlich gar nichts. »Dann wird sie mir eine Menge zu erklären haben, wenn ich sie wiedersehe«, sagte er schließlich wütend.
»Ja, und nicht nur dir«, brabbelte Nor. »Mir ebenso. Aber erst einmal muss sie mir helfen. Das Runzelkraut, das dieser Schmiedejunge an der alten Grabstelle gefunden hat, reicht alleine nicht, um mich zu heilen.«
»An welcher Grabstelle und welches Kraut?«, fragte Lexz verwirrt.
Der brodelnde Zorn, der dem alten Mann für einen Augenblick etwas von der Wildheit und Kraft zurückgegeben hatte, die vor unendlich vielen Sommern vielleicht einmal tatsächlich in ihm gewesen waren, schien inzwischen erloschen und etwas anderem Platz gemacht zu haben.
»Das Grab des Stammesfürsten aus den alten eisigen Tagen«, murmelte er fast unverständlich. »Das Grab des Mannes, der vor unzähligen Generationen die furchtbare Krankheit aufhalten musste ... die Toten in den Leichengruben zu entsorgen, war keine Lösung ... aber er fand ein Kraut, das ihnen half, die Krankheit auszumerzen ... das hat man ihm ins Grab beigelegt ...« Lexz glaubte schon, dies sei alles, was der uralte Mann von sich gab. Doch dann richtete er sich in seinem Sessel noch einmal ein Stück weit auf und sagte erstaunlich kraftvolclass="underline" »Später, viel später siedelten hier andere. Sie fanden das Krähengrab inmitten des unvollendeten Steinkreises, den ihre Vorfahren nicht mehr fertigstellen konnten. Und irgendwann haben sie dann das alte und das neue Geheimwissen in einer Scheibe verewigt und sie an der gleichen Stelle aufbewahrt. In dem Steingrab des mächtigsten Stammesfürsten unserer Vorfahren ...«
Ein sabbernder Faden lief aus dem Mundwinkel des alten Mannes, dann sackte er regelrecht in sich zusammen. Sein nacktes Gesicht erschlaffte, ebenso wie seine Schultern, und seiner Brust entrang sich ein merkwürdig wimmernder Laut. Dabei rutschte etwas aus seinen verunstalteten, knorrigen Händen, das unter den Falten seines Gewands bislang verborgen gewesen war: eine Bronzescheibe, auf der es ganz ähnlich golden glänzte wie auf den Krügen, die Lexz zuvor bemerkt hatte.
Mit einer erstaunlich schnellen Bewegung fischte Zakaan die Scheibe aus der Luft, bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte, und riss sie so hastig an sich, dass er ins Torkeln geriet und nach hinten stolperte. Wenn kein massives Bord hinter ihm gestanden hätte, wäre er wohl zu Boden gegangen. So übernahmen das die Gegenstände für ihn, die durch Zakaans Aufprall herunterfielen. Die meisten bestanden aus massiver Bronze, aber es waren auch zwei goldene Krüge mit dabei, die zu Boden fielen und in tausend Stücke zerbarsten.
»Bei Wurgar!«, polterte Rar. »Kannst du nicht aufpassen? Wenn das Kenan und Furlar, der Töpfer, sehen, machen sie mich einen Kopf kürzer! Und dann ...«
Zakaan runzelte die Stirn und musterte Rar mit einem nicht einmal unfreundlichen, aber doch so durchdringenden Blick, dass der Schmiedejunge den Rest des Satzes vergaß, den er gerade hatte hervorsprudeln wollen, und stattdessen den Mund so weit aufsperrte, dass er als Nistplatz für einen Spatz hätte dienen können.
»Du hast da eine wahre Meisterleistung vollbracht, in dem du das Runzelkraut unter den Schlingenpflanzen gefunden und ausgegraben hast, die das Grab zugewuchert hatten«, sagte Zakaan bedächtig. »Deswegen werde ich dir deine unklugen Worte verzeihen. Aber beim nächsten Mal sei etwas vorsichtiger in deiner Wortwahl, wenn du mit einem Schamanen sprichst, ja?«
Mit den Füßen schob er ein paar Scherben zusammen und wäre um ein Haar wieder ins Taumeln geraten.
Lexz hatte dafür keinen Blick. Er trat einen paar Schritte vor, auf den Schamanen zu, und streckte die Hand aus. »Das ist ...«, begann er und brach dann wieder ab, um verwirrt den Kopf zu schütteln. »Ist das nicht ...?«
»Das ist ... ist das nicht ...?« Der Schamane schüttelte ungeduldig den Kopf. »Bist du irgendwo mit dem Kopf gegen etwas gerannt oder hast du deinen Verstand im Stollen gelassen? Drück dich gefälligst klar aus, wenn du etwas von mir willst!«
Lexz ahnte, dass der Schamane sehr genau wusste, was er von ihm wollte. Das ging seinem Bruder wohl nicht anders.
»Es stimmt«, sagte Abdurezak anstelle des Schamanen. »Dies ist die Himmelsscheibe.«
»Die Himmelsscheibe«, wiederholte Lexz ungläubig.
Für die Dauer vieler schwerer Herzschläge stand er einfach da und starrte das phantastische Gebilde an, das der Schamane in den Händen hielt. Er schien erfüllt von einem Gefühl zwischen Ehrfurcht und Staunen, aber es mochte auch ein wenig Furcht dabei gewesen sein. Das war fast unheimlich: Er wusste, dass diese Scheibe aus Bronze und Gold über ihrer aller Schicksal bestimmte, und er hatte geglaubt, dass es noch sehr lange dauern würde und sehr schwierig wäre, sie zu finden.
Und jetzt hielt der Schamane sie dort so selbstverständlich in den Händen, als sei sie nur ein beliebiger Gegenstand. Das verunsicherte ihn. »Kann das wirklich die Himmelsscheibe sein, die wir alle so verzweifelt gesucht haben?«, wollte er wissen.
»Ja, sie ist es wirklich«, bestätigte Abdurezak mit hörbarem Stolz in der Stimme. »Das ist die Scheibe, auf der die Lage Urutarks vermerkt ist. Und da du es gewiss gleich wissen willst: Nach der Sternkonstellation, die man bei ihrer Fertigung zugrunde gelegt hat, ist dies hier wirklich Urutark, das Land unserer Vorfahren!«
Sternkonstellation - das war ein Ausdruck, der Lexz nicht unbedingt etwas sagte. Doch etwas ganz anderes ließ ihn zornig werden. »Wie konnte denn die Himmelsscheibe ausgerechnet in die Schmiede kommen?«, fragte er böse.
»Ach, das war keine große Sache«, antwortete Abdurezak leichthin. »Ich habe sie Kenan vor einiger Zeit zum Ausbessern überlassen. Aber da ahnte ich noch nicht, wie sich alles einmal zusammenfügen würde.«
»Einen Augenblick«, sagte Torgon, während er sich an Abdurezak wandte, der neben ihm saß. »Du hast die Himmelsscheibe tatsächlich dem Schmied zum Ausbessern gegeben?« Als Abdurezak nickte, legte er ihm die Hand auf die Schulter, sah ihm tief in die Augen und fragte ganz eindringlich: »Aber wie bist du selbst an die Himmelsscheibe gekommen, bei allen Göttern?«
In Abdurezaks Gesicht arbeitete es, Lexz und Torgon wechselten einen schnellen Blick. Irgendetwas stimmte hier nicht.