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»Du hast diese geheimnisvolle Bronzescheibe doch nicht etwa die ganze Zeit schon in deinem Besitz gehabt?« Torgons Gesicht verfärbte sich allmählich rot, was ganz und gar kein gutes Zeichen war. Gewiss würde er gleich die Beherrschung verlieren und etwas sehr Dummes tun.

Und wenn er es nicht tat, dann würde Lexz es tun. Und jetzt wurde er wirklich ärgerlich.

»Die Himmelsscheibe befand sich natürlich immer in Urutark«, sagte Abdurezak mit wachsendem Unbehagen in der Stimme. »Ich dachte, das sei jedem klar!«

Torgon starrte ihn an, als zweifle er an seinem Verstand, und jetzt war es Ekarna, die sich vorbeugte und ihre Hand auf die andere Schulter des Ältesten legte. »Das war uns klar, Abdurezak«, sagte sie ganz eindringlich. »Aber uns ist weder klar gewesen, wo Urutark liegt - noch wo wir die Himmelsscheibe dort finden können!«

»Schluss jetzt mit dem Gerede«, krächzte die Stimme aus dem Korbstuhl hervor.

Lexz zuckte zusammen, und sowohl Torgon als auch Ekarna ließen Abdurezak los und wandten sich zu dem Hohepriester um, der ihr Gespräch wohl aufmerksamer verfolgt hatte, als ihnen das bewusst gewesen war.

»Ich werde jetzt nicht sterben. Nicht in diesem Augenblick«, presste Nor hervor. Seine Stimme klang so rau wie kräftig aneinander reibende Mahlsteine. »Ich brauche das Kraut und die Zutaten aus der Hütte der Heilerin, damit sie mir das Heilmittel damit erstellen kann. Und dann werde ich mit eurer Hilfe meine Feinde zerschmettern - und euch dafür ein Leben in Frieden und Wohlstand ermöglichen!«

»Ja, aber ...«

Der Blick aus den eigentümlichen Augen Nors suchte ihn, und das wimpernlose Gesicht mit der Landschaft aus Falten, Runzeln und zahllosen, tief eingegrabenen Narben zuckte in seine Richtung herum.

»Du bist Ragoks Sohn«, stellte er fest. »Hat dir dein Vater nicht beigebracht, wann es dir gestattet ist zu sprechen, und wann nicht?«

Und ob ihm sein Vater das beigebracht hatte. Ragok war ein harter Mann mit harten Regeln, die er unnachgiebig durchzusetzen versuchte. Aber Lexz hatte in letzter Zeit zu viel Schreckliches erlebt, um sich so einfach abkanzeln zu lassen.

»Mein Vater hat mir vor allem beigebracht, dass wir die Stammväter anzuerkennen haben«, sagte Lexz ungehalten. »Und ich habe genug erfahren, um zu wissen, dass dies da ...«, er deutete auf die glitzernde Scheibe in Zakaans Händen, »dass die Scheibe das Vermächtnis unserer Stammväter ist.«

Nor gab ein zischelndes Geräusch von sich, und Lexz begriff mit einiger Verspätung, dass dies ein verächtliches Lachen hatte sein sollen. »Die Scheibe ist aus Bronze gefertigt, mein Junge. Bronze, mit Gold belegt. Unsere Stammväter kannten kein Metall. Alles, was sie besaßen, bestand aus Holz oder Stein.«

Rar kicherte auf eine lächerliche und vollkommen dümmliche Art. Lexz starrte ihn mit all der Wut an, die in diesem Augenblick gerade in ihm aufzusteigen begann.

»Was Männer tun und was sie nicht tun, das ist entscheidend«, fuhr Nor fort. »Nicht irgendwelche Scheiben ...«, ein harter Husten schüttelte ihn in diesem Augenblick, und er riss die Hand nach oben und hielt sie sich vor den Mund, »... auch«, keuchte er weiter, »... auch wenn ihr Wissen dabei helfen wird, die Felder zur rechten Zeit zu bestellen und die Ernte einzuholen, bevor sie von Unwettern oder vom Frost zerstört werden kann.«

Zakaan, der die glitzernde und blitzende Bronzescheibe noch immer umklammert hielt, hatte während des ganzen Gesprächs weiterhin hartnäckig versucht, die goldenen Tonscherben mit den Füßen zusammenzukehren. Jetzt hielt er darin inne und drehte sich zu den anderen um.

»Der Schlüssel zu allem sind die Krähen«, brach es aus ihm hervor. »Sie sind das Symbol sowohl für die Zerrissenheit unseres Volkes als auch für das, was wirklich wichtig ist.« Als ihn die anderen aber nur verblüfft anstarrten, nickte er bekräftigend. »Ja, die Krähen. Sie haben immer all unsere Wege verfolgt. Aber sie haben uns auch den Weg gewiesen.«

Lexz war nahe daran, dies als Altmännergeschwafel abzutun, doch da nahm schon Abdurezak den Faden auf. »Mein Bruder und ich hatten an der Hütte auf der anderen Seite des Berges etwas Zeit, uns auszutauschen. Und dabei haben wir auch begriffen, was es mit den Krähen auf sich hat.« Er lächelte entschuldigend. »Das könnt ihr jetzt natürlich nicht wissen. Aber in dem Tal unter uns gibt es einen bislang unvollendeten Steinkreis. Und ziemlich genau in seiner Mitte hockt eine riesige steinerne Krähe.«

»Ich habe das alles schon in einer Vision gesehen«, ergänzte Zakaan aufgeregt. »Am Fuße dieser steinernen Krähe haben unsere Stammväter eine Grabkammer eingerichtet und dort inmitten von Eis und Schnee Uaert beigesetzt, den mächtigsten Stammesfürsten seiner Zeit.«

Eine Vision? Lexz starrte den Schamanen ungläubig an. Eine Vision, in der Zakaan nicht nur gesehen haben wollte, wie man jemanden beisetzte - sondern dabei auch noch seinen Namen und seinen Rang erfahren hatte?

»Damals wie heute hat hier eine schreckliche Krankheit gewütet, die die Menschen erst entstellt und sie dann Stück für Stück umbringt«, nahm nun wieder Abdurezak den Faden auf. »Damals wie heute haben sich die Menschen zunächst nicht anders zu helfen gewusst, als die Toten in Leichengruben zu werfen - in einen Phleddererschrein, wie man es seit alters her nennt.«

Ja, Lexz erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er vor diesem Phleddererschrein gestanden hatte, und als er in die bleichen Gesichter seiner beiden Weggefährten blickte, sah er, dass in ihnen gerade die gleiche fürchterliche Erinnerung an Dinge hochstieg, für die es besser keine Worte gegeben hätte.

»Eine Auswurfgrube«, murmelte er. »Ein Leichensumpf. Oder ein Kadavertümpel. Oder auch eine Todesgrube.«

»Was?«, fragte Abdurezak irritiert.

Lexz winkte ab. »Wir sind auf diese Grube gestoßen. Grauenvoll.«

»Ja, das ist sie wohl«, bestätigte Abdurezak. »Aber immerhin fand Uaert ein Heilmittel, das dem unnötigen und qualvollen Sterben ein Ende bereitete. Und dieses Heilmittel hat man seinem Grab beigelegt, wo der Samen nach der Zeit der großen Kälte auch wieder aufging und zu blühen und sich zu vermehren begann.«

»Runzelkraut«, vermutete Lexz.

Die beiden alten Männer nickten auf genau die gleiche Weise. Sie konnten wahrhaftig nicht verbergen, dass sie Brüder waren.

»Runzelkraut wächst ausschließlich im Schatten von Schlingpflanzen«, erklärte der Schamane. »Und solche Orte sind selten. Wir können von Glück sagen, dass Rar an der Grabstelle unter der steinernen Krähe etwas von dem Kraut gefunden hat.«

»Ach, wenn es nur darum geht«, sagte Ekarna plötzlich, und Torgon ergänzte: »Wir kennen da eine schöne Stelle voller Schlingpflanzen. Wir können sie Rar gern beschreiben. Dort kann er sich dann nach Herzenslust austoben.«

Der Schmiedejunge starrte die beiden misstrauisch an, und Lexz konnte sehen, dass er angestrengt nachdachte. Aber wie zu erwarten gewesen war, kam der Muskelprotz zu keinem Ergebnis und sagte deshalb lieber gar nichts. Er würde schon noch seine Überraschung erleben, sollte ihn Abdurezak wirklich zu dem Schlingpflanzenwald schicken.

»Vor einiger Zeit hat ein Teil unserer Vorfahren wieder am See gesiedelt«, sagte Zakaan. »Und bevor sie von der Krankheit vertrieben wurden, haben sie ihr neues geheimes Wissen über den Zyklus der Sterne und des Lebens der Himmelsscheibe anvertraut. Irgendeiner von ihnen muss sie dann am Krähengrab in Sicherheit gebracht haben - bevor er gestorben ist, ohne zu begreifen, dass das Heilmittel für die fürchterliche Krankheit die ganze Zeit über neben der Himmelsscheibe gesprossen ist.«

»Dragosz und ich haben uns das Grab vor ein paar Tagen einmal näher angesehen«, nahm Abdurezak den Faden wieder auf. »Und zu unserer großen Überraschung sind wir dort auch auf die Himmelsscheibe gestoßen. Wir haben sie dann Kenan anvertraut. Er sollte sie aufarbeiten, und danach wollte sie Dragosz seiner Frau Arianrhod überreichen. Aber das ist ja dann leider nicht mehr möglich gewesen.«