Lexz starrte ihn an. Er war nicht nur verwirrt, er war vollkommen durcheinander.
Nor, der inzwischen in sich zusammengesackt war, als wenn er tot wäre, hatte das Gespräch vielleicht verfolgt, vielleicht hatte er es in seinem Dämmerschlaf aber auch nicht mitbekommen. Jetzt allerdings kam wieder Leben in ihn. Er legte den Kopf so auf die Seite, dass von vorne etwas Licht auf ihn fiel. Er sah aus, als sei er bereits vor langer Zeit gestorben: bleich und hohlwangig und vollkommen haarlos. Seine Gesichtszüge wirkten dennoch auf ganz eigentümliche Art entspannt, wie bei Zakaan, wenn er sich vollkommen in seiner Mitte fühlte. Das Auffälligste aber waren seine Augen: Sie blieben hart, kalt wie Glas und fast ohne Leben.
»Nun ist aber endgültig Schluss mit dem Gerede«, befahl er barsch. »Geht jetzt und holt mir die Heilerin. Und beeilt euch! Ich möchte nicht tot sein, bevor ihr wiederkommt!«
Kapitel 24
Die Wolken ballten sich wie eine große Faust über ihr zusammen, aber Arri fühlte sich von ihnen weniger bedroht als vielmehr beschützt. Ihr ganzen Denken und Fühlen war auf das ausgerichtet, was vor ihr lag. Und das gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen verschmolz ihr Instinkt mit ihrer Umgebung, mit jeder kleinen Unebenheit, mit jeder Pfütze, jedem Stein, jedem Grashalm und jedem noch so kleinem Busch. Zum anderen sah sie Isanas Gesicht vor sich: fröhlich, lachend, ihr zugewandt. Aber auch zerschlagen, gedemütigt und voller Schmerz.
Ich befreie dich, Isana, schwor sie sich. Halte aus!
Und doch - Arri hasste Taru nicht, sie verabscheute ihn nicht einmal. Eher brannte der heiße Wunsch in ihr, diesen brutalen Kerl endlich in die Schranken zu verweisen. Ihr war klar, dass die nächste Begegnung mit ihm nicht ohne Kampf abgehen würde. Taru würde zwar in jedem Fall ihr Schwert zu schmecken bekommen, aber es wäre besser für ihn, wenn er sich rechtzeitig ergab, bevor sie ihn gleich an Ort und Stelle erschlug.
Was sie ja immer noch tun konnte. Vielleicht wäre dies sogar besser. Auch wenn er Dragosz’ Sohn und allein deshalb für sie unantastbar gewesen war. Bislang. Aber damit war es jetzt vorbei: Bei aller äußerlichen Ähnlichkeit war Taru alles andere als das Abbild seines Vaters. Die dunkle Seite in ihm hatte inzwischen viel zu viel Macht über ihn gewonnen. Wenn er sich nicht ganz von der Boshaftigkeit und der Brutalität abwandte, die ihn innerlich zu zerfressen drohten, war es doch besser, er wäre tot und die Geier fraßen ihm das Fleisch von den Knochen.
Arri erschrak ein wenig über diesen Gedanken, aber auch wirklich nur ein wenig. Inzwischen war so viel geschehen, dass sie sich auch vorstellen konnte, einen Mann zu töten, der in seinen besten Augenblicken wie eine jüngere Ausgabe von Dragosz aussah.
Sie griff das Schwert fester und beschleunigte ihre Schritte. Vielleicht war es das, was ihre Mutter gemeint haben mochte, als sie gesagt hatte, sie werde das Geheimnis des Schwertes eines Tages noch am eigenen Leib spüren. Es war nicht nur die geheime neue Legierung, aus der es geschmiedet worden war, und die härter als Kupfer und Bronze sein sollte, viel härter. Das Schwert war in einer Schmiede angefertigt worden, die inmitten der inzwischen in Sturmfluten untergegangen Tempelanlage ihrer Ahnen gelegen hatte.
Dies vor allem war es, was dem Schwert innewohnte: diese ihm ganz eigene, unbändige Kraft, die eine Waffe erfüllen konnte - und die nun ebenso von ihr ausstrahlte wie die Wärme von einem Stein, den die Hochsommersonne gewärmt hatte.
Ein Teil dieser Kraft ging sogar auf sie über, fing an, sie zu durchdringen. Und mit ihr kam eine Klarheit und Entschlossenheit über sie, wie sie sie schon lange vermisst hatte.
Dazu durfte sie aber keinen Augenblick in ihrer Wachsamkeit nachlassen. Und das fiel in diesem Tal, in dem sie den Atem der Götter wie einen Hauch spürte, der alles erfüllte, gar nicht so leicht. Die Monolithen, die bislang ein Symbol der Unvergänglichkeit und des Versuchs für sie gewesen waren, den Göttern ein kleines Stück näherzukommen und sich ihres Beistands zu versichern, wurden jetzt gleichzeitig zu Verbündeten und Feinden für sie: zu Verbündeten, weil sich Arri in ihrem Schutz ziemlich frei bewegen konnte, zu Feinden aber, weil sie umgekehrt auch denjenigen Sichtschutz versprachen, die sie vielleicht bemerkt hatten und sich gerade an sie anschleichen wollten.
Arri verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich auf die Spuren von Taru und Isana. Es war ihr ein Leichtes, den deutlich sichtbaren Abdrücken in dem feuchten Untergrund zu folgen. So wie es aussah, steuerten die beiden die andere Seite des weitläufigen Tales an. Arri erinnerte sich nur zu gut an den weitläufigen Talausläufer, der sich dort anschloss, und an die in dieser Gegend wachsenden seltenen Kräuter, die ihre Neugierde geweckt und sie immer wieder angelockt hatten. Dieses unübersichtliche Feuchtgebiet war kein Sumpf oder Moor, sondern ein von kleineren und größeren Bächen durchzogenes Stück voller Baumgruppen, Buschwerk und Morast. Und darüber lag die Schmiede.
War etwa das ihr Ziel? Die Schmiede? Arri konnte sich das eigentlich nicht vorstellen. Denn es hätte doch bedeutet, dass Taru das Risiko einging, plötzlich Kenan gegenüberzustehen. Sie konnte sich nur zu lebhaft vorstellen, was der Schmied mit Dragosz’ Sohn tun würde, wenn er sah, was dieser seiner Tochter angetan hatte.
Vielleicht war es dann doch so, dass sie zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt war und ihrer Umgebung zu wenig Aufmerksamkeit widmete. Jedenfalls erahnte sie plötzlich eine Bewegung in ihrem Rücken. Sie fuhr herum, darauf gefasst, augenblicklich von einem Pfeil getroffen zu werden oder mehreren Gegnern gegenüberzustehen.
Doch sie hatte sich getäuscht. Es war ein einzelner Mann, der aus dem Schatten eines Monolithen heraustrat und mit grimmigem Gesicht auf sie zuhielt. Die untergehende Sonne tauchte ihn in ein so rotes Licht, dass es aussah, als sei er in Blut getaucht. In direkter Linie hinter ihm lag die steinerne Krähe, und auch sie schimmerte rot. Der Blick ihrer schwarzen Augen schien Arri voll kalter Verachtung zu mustern, als wollte ihr dieser Blick klar machen, dass sie versagen würde, wenn sie nicht endlich anfing vorsichtiger zu werden.
So, wie es aussah, bestand zumindest jetzt jedoch kein Grund zur Vorsicht. Sie entspannte sich ein wenig, als sie den Mann erkannte und sah, dass er allein war.
»Larkar!«, rief sie ihm entgegen. »Wo kommst du her?«
Der Speer verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Frag mich nicht.« Er schritt so schnell aus, dass er das verletzte Bein stärker als je zuvor hinter sich herziehen musste. Sein Gesicht war hohlwangig und bleich, doch da lag ein Funkeln in seinen Augen, das sie beunruhigte. »Ich konnte fliehen - und auch das nur, weil man Nor ganz plötzlich wegbrachte und die Krieger in ihrer Aufmerksamkeit nachgelassen hatten.«
Nor. Fliehen. Ja. Arri schämte sich zwar, aber sie hatte ganz vergessen, dass sie Larkar gefesselt auf dem Dachboden des Langhauses zurückgelassen hatte, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
»Nachdem ich begriffen hatte, dass ich weder Sedak noch Lexz oder die anderen finden würde«, sagte Larkar, »wollte ich wieder zurück in unser Lager, um wenigstens Ragok zu warnen. Aber das Unwetter hat mich erwischt und gezwungen, einen kleinen Umweg zu machen. Und dabei habe ich mich wohl verlaufen.«
Arri nickte. »So was kommt vor. Vor allem hier im Tal der Götter. Und was willst du jetzt tun?«
Larkar blieb stehen und musterte aus zugekniffenen Augen das Schwert, das Arri drohend in der Hand hielt. Sofort senkte sie seine Spitze. Aber das änderte nichts daran, dass Larkar die Waffe weiter und mit wachsendem Misstrauen betrachtete.
»Wo hast du bloß diese Waffe her?«, fragte er misstrauisch. »Das ist doch kein Bronzeschwert, oder?«