Aber vielleicht hatte sie sich da ja auch nur etwas eingeredet.
»Wenn du nicht mitkommen willst ...«, begann sie ärgerlich und um eine Spur zu laut.
»Darum geht es doch nicht«, unterbrach sie Larkar. Er straffte sich. »Ich habe mindestens zwei Männerstimmen gehört, und das bedeutet, dass außer Taru noch jemand anders dabei sein muss. Vielleicht ist es ja wirklich eine ganze Gruppe. Wir müssen vorsichtig sein.«
Arri spürte einen tiefen Stich in der Magengegend. Wenn er nicht mitkommen wollte, war das die eine Sache. Aber dass er deswegen irgendwelche Geschichten erfand, begeisterte sie gar nicht. »Ich bin sicher, dass dort vor uns nur Isana und Taru sind, sonst niemand. Aber mach, was du willst. Du kannst ja hier auf mich warten, oder auch einfach verschwinden.«
Larkar schüttelte den Kopf und öffnete die Hände, die er bisher zu verkrampften Fäusten geschlossen hatte. »Ich werde mitkommen, wenn du es willst.«
Arri zögerte. »Bist du sicher?«
Larkar nickte. »Natürlich bin ich das. Und jetzt genug der Worte. Lass uns endlich gehen!«
Arri nahm die Aufforderung sofort an. Sie versetzte Larkar einen freundschaftlichen Schubser, drehte sich um und schlich in die Richtung der Abendsonne, die mit ihrem blendend roten Licht die Bäume, die da vor ihr standen, wie dunkle Krieger wirken ließ, die sich ihr drohend zuwandten. Eigentlich sollte ich Angst haben, dachte sie, aber die hatte sie nicht. Sie hatte längst den Punkt überschritten, wo es noch ein Zurück gab.
Larkar war mit ein paar humpelnden Schritten, die dennoch kraftvoll wirkten, neben ihr. »Denk an das, was ich dir gesagt habe«, raunte er ihr zu. »Da vorn sind mehrere Männer. Da willst du doch nicht so einfach dazwischengehen, oder?«
Eigentlich wollte sie das doch. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. »Ich will nur Isana befreien und mir Tarus Kopf holen.«
Lexz stand verkrampft da, die Schultern wie unter einer unsichtbaren steinernen Last nach vorn gebeugt und mit zu Fäusten geballten Händen. Alles in ihm war in Aufruhr. Der Wind, der vom Tal heraufwehte, schien mit jedem Atemzug kälter zu werden, und er musste sich richtig zusammenreißen, um nicht zu zittern und vor Kälte mit den Zähnen zu klappern.
»Es ist fürchterlich«, sagte Torgon und legte ihm die Hand auf die Schultern.
»Fürchterlich?« Lexz fuhr zu Torgon herum. Das war wohl kaum das richtige Wort. Ekarna hatte ihn geliebt, das hatte er spätestens in dem Augenblick begriffen, als er die Sterbende in den Armen gehalten hatte.
Und irgendetwas in ihm hatte sie auch geliebt. Vielleicht nicht ganz so, wie ein Mann eine Frau liebt. Aber auf so tief und aufrichtig, dass es ihm einfach unbegreiflich erschien, dass sie jetzt von ihm gegangen war.
»Es ist nicht fürchterlich«, stieß Lexz hervor und wischte Torgons Hand beiseite. »Es ist ungerecht. Sie war doch voller Leben!« Die eisige Kälte schien bis ganz tief in seine Knochen einzudringen, bis in den letzten Winkel seiner Seele. »Und jetzt lass mich in Ruhe«, murmelte er kraftlos.
Torgon sah so ernst und erschüttert aus, wie Lexz ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Aber er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das wird nicht gehen.« Er deutete zurück, in die raue Reihe der Felsen, die sich in der Unendlichkeit der Abenddämmerung hinter ihnen verloren. Schreie schallten von dort herüber, das Geräusch harter Schläge, das Klirren von Metall auf Metall. »Da wird gestritten. Ich vermute, es sind Nors Leute, die gegen Amars Männer kämpfen. Und wir stehen hier ... ohne Deckung.«
»Ja, ohne Deckung. So wie Ekarna.«
Er warf einen Blick auf sie. Sie lag ein wenig gekrümmt da, beinah so, als hätte sie sich nur zum Schlafen hingelegt. »Ich kann dich hier nicht liegen lassen«, flüsterte er heiser.
Er bückte sich und nahm sie auf. Sie war noch warm, und würde nicht der Pfeil in ihrer Kehle stecken und wäre nicht das Blut über ihre Brust gelaufen, man hätte tatsächlich meinen können, dass sie nur in einen tiefen, festen Erschöpfungsschlaf gefallen war.
Ohne ein Wort, ohne sich umzudrehen, und ohne auch nur einen Gedanken an seine Gefährten zu verschwenden, lief er mit Ekarna in den Armen los.
Ein eisiger Wind kam auf, zumindest schien es Taru so. Vielleicht war es aber auch nur Amars Anwesenheit, die ihn frösteln ließ, und die Art, wie dieser dastand, sprach und so tat, als sei er der Nabel der Welt und Taru nicht mehr wert als der Dreck unter seinen Fingernägeln.
Zu seinem Entsetzen trat Amar auf Isana zu, packte ihr Kinn und hob es so weit an, dass er ihr in die Augen sehen konnte. »Was machen wir nur mit diesem kleinen Kerl da, der meint, er könne ein großer Herrscher werden?«
Die Art, wie Amar diese niederschmetternden Worte aussprach, wie er Isana dabei ansah und wie sie seinen Blick erwiderte, das war von einer Vertrautheit, die der Lage überhaupt nicht angemessen schien. Mehr noch aber störte Taru der Tonfall, mit dem dieser aufgeblasene Wichtigtuer über ihn sprach.
»Hohepriester!«, sagte er scharf, »vielleicht hast du es ja schon vergessen, aber ich bin der Nachfolger meines Vaters Dragosz. Und als solcher verlange ich auch behandelt zu werden!«
Er fand, dass er das sehr gut gesagt hatte. Amar grinste jedoch nur breit, und dabei hielt er noch immer Isanas Kinn fest, während sie weiterhin zu ihm hochsah. Irgendetwas lief hier ganz und gar falsch, fand Taru. Er wünschte sich weit weg - oder zumindest sollte Rar an seiner Seite sein.
»Er möchte als Sohn behandelt werden«, stellte Amar fest, ohne mit diesem dämlichen Grinsen aufzuhören.
»Ja«, hauchte Isana. »Und das ist er ja auch. Ein kleines vorlautes Söhnchen.«
Sie löste sich aus Amars Griff und drehte sich zu Taru um. »Da hast du dir ja wohl die Falsche ausgesucht«, sagte sie auf eine sanfte Art, die genau das Gegenteil ausdrückte. »Wie konntest du nur glauben, dass ich mir das gefallen lasse?«
»Dir was gefallen lässt? Du hast doch ...« Taru brach ab, als er merkte, dass er sich zu verhaspeln begann.
»Was hat Isana?«, fragte Amar. Sein übertriebenes Grinsen erlosch, doch was jetzt an dessen Stelle trat, wollte Taru erst recht nicht gefallen: Es war eine Mischung aus Hochmut und kalter Entschlossenheit. Taru versuchte seinem Blick standzuhalten, und das wäre ihm wohl auch gelungen, wenn da nicht etwas in Amars Augen gefunkelt hätte, das ihn zu Tode erschreckte.
»Willst du deiner groben Behandlung vielleicht noch eine Beleidigung folgen lassen?«, fragte Amar so leise, dass seine Worte im Raunen des Windes fast untergingen.
»Warum sollte ich?«, gab Taru zurück. »Ich merke doch, dass ihr euch gut kennt.« Er versuchte, seiner Stimme einen spöttischen Klang zu verleihen, aber das misslang ebenso kläglich wie sein Versuch, sich ein spöttisches Grinsen abzuringen.
»Oh, er hat gemerkt, dass wir uns kennen!« In einer gespielten Geste der Verzweiflung schlug Isana die Hand vor den Mund. »Das ist aber gar nicht gut.«
»Nein, das ist es wirklich nicht«, pflichtete ihr Amar auf jene immer noch fast unheimlich wirkende Weise bei. »Schließlich muss das ja nicht jeder wissen.«
Isana nahm die Hand herunter und nickte. Ihre Miene verdüsterte sich dabei ganz nach Kenans Weise. Dabei hatte sie rein äußerlich keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Aber diese wütende Art nachdenklich auszusehen, glich Kenan doch, wenn er sich mal wieder wegen irgendeiner Kleinigkeit ungehalten zeigte. Taru verstand diese Wandlung nicht. Eben war die Tochter des Schmieds noch ein ängstliches kleines Mädchen gewesen, das alles getan hätte, um ihn nicht zu erzürnen. Aber jetzt wirkte sie eher wie die Frau eines Herrschers, die sich überlegte, was sie mit dem Bauernjungen tun sollte, der ihr gegenüber frech geworden war.
Was, bei allen Göttern, geschah hier nur?
»Wir müssen uns überlegen, was wir mit ihm tun«, sagte Isana gepresst. Das Funkeln in ihren Augen gefiel Taru immer weniger.