»Was willst du denn, was sollen wir denn tun?«, fragte Amar ruhig.
Isana fuhr sich mit einer schnellen Bewegung über den Hals, als wolle sie sich die Kehle durchschneiden. »Weg mit ihm«, sagte sie leise. »Alles andere wäre viel zu gefährlich.«
Taru starrte sie fassungslos an. Das ist doch nur ein schlechter Scherz, dachte er. Aber als er das harte Glitzern in Isanas Augen sah, und dann bemerkte, wie Amar hinter sie trat und sie auf eine fast zärtliche, auf alle Fälle aber sehr vertraute Art umfasste, da spürte er eine hilflose Wut in sich hochsteigen.
»Ihr seid ...«, keuchte er.
»Ein Paar?«, schlug Amar vor. Er nickte, ohne Taru auch nur für die Dauer eines Lidschlags aus den Augen zu lassen. »Ja, so könnte man es vielleicht nennen.«
»Irgendjemand muss doch die Verantwortung für das Land hier übernehmen«, sagte Isana. Ihre Hand kroch zu der Amars hoch, die auf ihrer Schulter lag, und umfasste sie. »Und wer verstünde das besser als wir?«
Es war vollkommen irrsinnig, mit der toten Ekarna in den Armen voranzustürmen. Aber Lexz konnte nicht anders. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht, und er konnte sie sich nicht wegwischen. Die Kälte wich nicht aus ihm, obwohl er viel schneller lief als gut war, und immer wieder ins Stolpern geriet.
Weglaufen ist keine Lösung, hätte der Schamane gesagt. Aber der war ja selbst dem Tod näher als dem Leben. All seine Sprüche waren vollkommen wertlos und würden ihm kein bisschen weiterhelfen.
Ekarna war tot, Isana war verschwunden. Dragosz war tot - und sein Vater immer noch nicht verständigt. Zakaan und Torgon waren hinter ihm geblieben, vielleicht, weil sie nicht Schritt halten konnten, vielleicht aber auch, weil sie in die Kämpfe in den Hügeln verwickelt worden waren, deren Widerhall noch immer bis zu ihm drang.
Das Hämmern seines Herzens trieb ihn weiter auf den Bach zu, den er schon von oben aus gesehen hatte. An seinem Ufer würde er Ekarna auf ein weiches Lager betten und ihr die letzte Ehre erweisen. Lexz wusste, dass sie als Frau nicht das gleiche Recht wie die gefallenen Krieger hatte, das Totenreich der toten Helden zu betreten. Und während er taumelnd und wie außer sich den Pfad hinablief, fragte er sich, warum das eigentlich so sein musste.
Es war ungerecht. Ekarna war zwar eine Frau, aber sie hatte ganz das Leben eines Kriegers gelebt. Also sollte es ihr auch zustehen, dem Todesfluss auf die gleiche Weise anvertraut zu werden. Er würde dafür sorgen, dass sich dem niemand widersetzte - und wenn er Zakaan und Abdurezak mit gezückter Waffe dazu zwingen musste, die Zeremonie zu vollziehen.
Taru war erschüttert. Er hatte alles vollkommen falsch eingeschätzt. Nie im Leben wäre er darauf gekommen, dass ausgerechnet Amar und Isana gemeinsame Sache machen könnten!
»Merkwürdig, dass du jetzt so still geworden bist«, sagte Isana in einem Ton zu ihm, den er gar nicht von ihr kannte. »Eben hast du noch das große Wort geführt. Und jetzt? Jetzt kommt gar nichts mehr aus deinem Mund!«
»Da wusste ich ja auch nicht ... das, was ich jetzt weiß«, antwortete Taru steif.
Er musste Zeit gewinnen. Ein bitterer Geschmack breitete sich tief in seiner Kehle aus, während er verzweifelt darüber nachdachte, wie er Amar und seine zwei Krieger überwältigen konnte. Sein Schwert steckte im Gürtel, die zwei schwarz gekleideten Krieger Gosegs hielten ihre Waffen dagegen bereits in den Händen. Und Amar war so wachsam wie eine Schlange, die nur darauf wartete, dass ihr Opfer eine falsche Bewegung machte, um dann zuzuschnappen.
Irgendwie musste es ihm gelingen, ihn und die beiden Krieger abzulenken.
»Wir sollten ihn erst mal nach Goseg bringen«, sagte Amar - als spräche er über einen dummen Bauerntölpel und nicht über ihn, Dragosz’ Sohn!
»Nach Goseg?« Isana fuhr zu ihm herum. »Aber wozu?«
»Um ihm den Prozess zu machen«, antwortete Amar ruhig. »Schließlich regiert Goseg mit harter Hand, aber ohne Mord und Totschlag.«
»Ach ja?«, fragte Isana. »Und warum musste ich dann das Wasser vergiften?«
»Das weißt du besser als ich.« Amars Haltung verriet eine gewisse Anspannung. »Oder wer von uns beiden wollte Heilerin werden?«
»Und wer von uns beiden wollte seinen Einfluss auf den See der tausend Fische ausdehnen?«, fragte Isana gereizt.
Scharf sog Taru die Luft ein. »Das kann doch nicht wahr sein! Arianrhod hat das Wasser vergiftet!«
»Ja - das habe ich gut gemacht, nicht wahr?« Isana fuhr zu ihm herum. Ein kalter Luftzug griff unter ihre Haare und wirbelte sie wie ein böser Luftgeist hoch. »Ihr alle habt es geglaubt! Dabei seid ihr nicht einmal auf die Idee gekommen, dass schließlich ich es war, die die meisten Zutaten zusammengestellt hat. Dabei war auch eine ganz besondere. Eine, die ich eigens dafür aus dem Leichenpfuhl geschöpft habe!«
Sprachlos starrte Taru sie an. Er hatte nicht nur vermutet, er hatte zu wissen gemeint, dass nur Arianrhod die Mörderin seines Vaters sein konnte. Und jetzt sollte das nicht mehr wahr sein? Das schien ihm einfach unvorstellbar.
»Du lügst doch«, brach es aus ihm hervor. »Vielleicht hast du Arianrhod ja geholfen. Aber sie ist die Mörderin meines Vaters!«
Isana lachte verächtlich auf. »Du überschätzt die taube Nuss. Arri hat doch keine Phantasie. Zusammen wären sie und Dragosz der Untergang für uns Raker gewesen. Nein, man muss viel weiter denken, wenn man ein Volk groß und stark machen will!«
»Das kann doch nicht wahr sein«, beharrte er weiter, während seine Hand wie von selbst zu seinem Schwert wanderte. »Ich weiß, dass Arianrhod meinen Vater umbringen wollte, von Anfang an!«
Während Taru das sagte, klammerte sich seine Hand um den kalten Griff des Bronzeschwertes, das Isanas Vater mit größter Sorgfalt zu einer tückischen Waffe geschmiedet hatte. Es wäre nicht mehr als die gerechte Strafe, wenn Kenans Tochter nun durch die vielfach gehärtete Klinge sterben würde.
»Ja, du hast dir immer eingeredet, dass Arri Dragosz nach dem Leben trachtete«, stieß Isana hervor. Ihre Augen blitzten triumphierend auf. »Aber in Wahrheit war allein ich es, die deinen Vater unter einem Vorwand in den Wald gelockt hat. Dein Vater war kein treuer Mann, Taru. Er war nur allzu gern bereit, sich auf ein kleines Techtelmechtel mit mir einzulassen. Und als er mich dann hinterging - ja, da habe ich einen Stein genommen und ihn einfach niedergeschlagen. Weil er es nicht erwartet hatte, fiel es so leicht.«
Taru schüttelte den Kopf. »Nein!« Doch er hatte schon immer vermutet, dass sein Vater nicht wirklich treu hatte sein können. Aber das war jetzt vollkommen nebensächlich. »Mein Vater wurde doch vergiftet. Nicht erschlagen!«
»Ja, das ist wahr.« Das triumphierende Glitzern schoss noch immer aus Isanas Augen, aber es lag auch plötzlich so etwas wie ein Bedauern darin. »Ich hatte nicht fest genug zugeschlagen. Er ist wieder zu sich gekommen und hat sich wie ein Hund zu Arianrhod aufs Lager geschlichen. Und danach hat er mich bedroht und gesagt, er wolle mich töten, sollte ich noch einmal die Hand gegen ihn erheben. Das konnte ich mir nun wirklich nicht gefallen lassen!«
Taru starrte sie verständnislos an.
»Hätte ich nur fester mit dem Stein zugeschlagen!«, entfuhr es Isana. »Ich hatte schon damals alle Spuren so gelegt, dass jede einzelne von ihnen auf Arri als Täterin verwiesen hätte. Dann wäre ich beide losgeworden - Dragosz und Arri!«
»Dragosz und Arri«, sagte Amar nachdenklich. »Ein gefährliches Paar - mit Ideen, die Goseg durchaus hätten gefährlich werden können. Aber ohne Dragosz sind die Raker wie ein Haufen Rebhühner, der sich schnell aufscheuchen lässt!«
Taru umklammerte den Schwertgriff so fest, dass seine Finger knackten. Seine Umgebung flackerte in einem tiefroten Licht, und mit ihr Isana, Amar und die Krieger, und auch die dichte Buschgruppe hinter ihnen, deren dunkle Stellen wie Raubtiere aussahen, die sich zum Sprung anspannten. »Ich verstehe nicht ...«