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Aber warum hatten die Götter dann nicht gleich Dragosz und die Abtrünnigen zerschmettert, die sich auf seine Seite geschlagen hatten? Diese eine Frage hatte Lexz seinem Vater so oft hingeschleudert, bis er eine Antwort bekommen hatte: »Weil sie uns prüfen wollen, mein Sohn. Weil nicht sie es sein werden, die Dragosz richten, sondern wir. Wir werden Dragosz und seine Brut finden, und sie werden die Strafe erhalten, die sie verdienen. Und das nicht nur für Dragosz’ Verrat - sondern für jeden einzelnen Toten, den wir auf der großen Wanderung zu beklagen hatten.«

»Und für Nakurs Tod!«

»Ja.« Ragoks Stimme hatte wie das Knurren eines angreifenden Höhlenlöwen geklungen. »Er wird für Nakurs Tod bezahlen - da kannst du sicher sein! Wir werden ihn und seine Brut aus Urutark vertreiben. Und dann werden wir dort leben und das Gesetz unserer Stammväter erfüllen. Und noch unsere Kindeskinder werden von der großen Wanderung in das Land der Vorväter erzählen. Unsere Heldentaten werden auf ewig leben!«

Das hatte Ragok der Bezwinger gesagt, ohne wissen zu können, ob Dragosz Urutark tatsächlich vor ihnen erreicht hatte - und ohne das üppige Grün und die wild wuchernden Pflanzen und Triebe hier zu sehen, die Lexz wie blanker Hohn erschienen, je tiefer er in den Urwald eindrang. Ragok konnte sagen, was er wollte, er konnte von künftigen Heldentaten erzählen, über die ihre Nachfahren einmal schwärmen mochten - das alles war doch nur eine billige Entschuldigung für die unfassbare Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr! Nicht Ragok hatte den alten Schwur zwischen den Brüdern gebrochen, sondern Dragosz, der alte Bock, der seine Hände nicht von der Auserwählten seines Bruders hatte lassen können.

Ragok und Surkija waren einander seit Ewigkeiten versprochen gewesen, der wagemutige junge Krieger und die Tochter der Heilerin. Doch dann hatte sich Dragosz an Surkija herangemacht und sie so lange umgarnt, bis sie seinem Werben schließlich nachgegeben hatte. Wie hatte er nur glauben können, dass die Götter diesen Frevel so einfach hinnahmen?

Lexz’ Hand öffnete und schloss sich mehrmals hintereinander, wie im Krampf. Die Blätter und Nadeln der Bäume hier waren satt und grün, ganz anders als in den übrigen Teilen des Landes, durch das ihr beschwerlicher Weg sie geführt hatte, wo jeder einzelne Baum, jeder Strauch und jede Pflanze Spuren der großen Dürre aufwies, wenn nicht ohnehin schon alles verdorrt und vertrocknet war. Der Anblick wurde von Atemzug zu Atemzug unerträglicher für ihn. Heftige Wellen der Wut und Empörung stiegen erneut in ihm auf und drohten jeden Gedanken an Mäßigung und Besonnenheit mit sich zu reißen. Urutark. Das Land ihrer Ahnen. Dragosz hatte seinen Getreuen geschworen, sie dorthin zu führen: und damit in ein sattes, unbeschwertes Leben. Wenn das stimmte, was der Kundschafter ihnen erzählt hatte, dann musste er es tatsächlich gefunden haben. Was für eine Ungerechtigkeit! Warum taten ihnen die Götter das nur an?

»He!«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Warte auf uns!«

Lexz zuckte zusammen und drehte sich dann um. In seiner Empörung war er so schnell gelaufen, dass die anderen offensichtlich alle Mühe hatten, zu ihm aufzuschließen. Drei Männer und eine Frau hatte ihm sein Vater mitgegeben, eine kleine, aber schlagkräftige Truppe, die kampferprobt und durch die Strapazen der letzten Zeit abgehärtet war. Auch wenn er zuerst am liebsten allein losgezogen wäre, um Dragosz’ Lager auszukundschaften, war er jetzt mehr als froh, die alten Freunde zu sehen, mit denen zusammen er schon mehr als eine gefährliche Situation gemeistert hatte.

Als Erster tauchte der dicke Torgon auf, wie sie alle mit schwarz angemalten Augen und bedrohlich wirkender Kriegsbemalung. Er walzte wie ein Auerochse durchs Unterholz, schlug beiseite, was er mit seinen fleischigen Händen erreichen konnte, und knallte mit dem Kopf das weg, was übrig blieb. Kurz dahinter brach Ekarna durch das Gebüsch, dünn wie eine Bohnenstange und mit ungewöhnlich langen Zähnen, die sie schon mehr als einmal in das Fleisch eines Gegners geschlagen hatte, was Lexz innerlich erschauern ließ - dies hätte er allerdings niemals zugegeben. Im Zweifelsfall hätte er sich lieber mit Torgon als mit der Raubkatze angelegt, wie man sie hinter ihrem Rücken nannte.

Wer die beiden auf seiner Spur durchs Unterholz brechen sah, konnte meinen, dass es ein einfältiges Waldläuferpaar sein mochte, das sich von jeder Höhlenhyäne austricksen ließ. Dies wäre aber ein fataler Fehler gewesen. Ekarna hatte das Zeug zur Heilerin, was viel bedeutete, denn die Heilerinnen konnten es im Wissen um die menschliche Natur und die Geheimnisse des Lebens mit jedem Schamanen aufnehmen. Torgon dagegen war bislang nicht nur im Zweikampf unbesiegt geblieben, sondern hatte mit seinem scharfen Verstand auch schon mehr als einmal einen Ausweg aus einer scheinbar hoffnungslosen Situation gewusst.

Das Wichtige für seinen Vater aber war: Die beiden zeigten sich ihm treu ergeben. Und sie würden ihr Leben opfern, wenn Lexz in eine ernsthafte Bedrängnis geraten sollte. Genau das hatten sie auch geschworen, bevor der Schamane begonnen hatte, ihnen die traditionelle Bemalung derer aufzutragen, die für ihr Volk in den Kampf zogen. Während er ihnen die schwarze Farbe um die Augen herum aufgemalt hatte, die Ruß zwar ähnelte, aber viel süßlicher roch, hatte Torgon gespottet, dass Larkar nun überhaupt nicht mehr wie ein Mensch aussah. Das war auch nicht ganz falsch. Nach seiner schweren Verletzung hatte sich der Speer die rechte Hälfte seines Schädels kahl geschoren und seine Haare in einer feierlichen Zeremonie den Göttern geopfert. Anschließend hatte ihm der Schamane einen eigentümlichen Ohrenschmuck angelegt. Dadurch sah Larkar auf eine merkwürdige Weise fremd und bedrohlich aus.

Das gab Torgon aber noch nicht das Recht, über Larkar herzuziehen. Wäre der Schamane nicht gewesen, wären er und Lexz wohl in einen heftigen Streit darüber geraten, während Larkar nur abgewunken und sich ein Stück von ihnen entfernt hatte.

»Lass ihn«, hatte er anschließend zu Lexz gesagt. »Der Dicke weiß es nicht besser. Er ist dem Tod noch nie so nahe gewesen wie ich. Das verändert alles.«

Ja, dachte Lexz bitter. Er ist fast gestorben, nur weil er mir das Leben retten wollte. Und wie danke ich es ihm? Indem ich ihn im Stich lasse.

Ein paar Tropfen benetzten sein Gesicht, und als er aufsah, wurde ihm bewusst, dass sich der Himmel erneut verdunkelt hatte. Vorhin hatten sie Donnergrollen gehört, und irgendwo in der Ferne hatten auch Blitze den Himmel zerrissen: Es war das Zeichen, dass die Götter in Aufruhr waren. Als Kind hatte er die unbeherrschte Kraft ihrer Schöpfer gefürchtet, die Blitz und Donner auf sie herabschleuderten, als wollten sie Menschen und Tiere wieder auslöschen, die sie einmal aus einer Laune heraus aus Lehm und Dreck erschaffen hatten. Doch dann begann er zu begreifen, dass Zakaan vielleicht doch recht hatte: »Sie verwüsten mit Unwettern Landstriche, aber sie spenden mit ihnen auch Leben«, glaubte er die tiefe, knarrende Stimme des Schamanen zu hören. »Tod und Leben sind oft nur eine Handspanne voneinander entfernt. Es obliegt den Menschen, das Beste daraus zu machen.«

Lexz sah das etwas anders, und er zweifelte mittlerweile auch daran, dass Weisheit in all dem lag, was die Götter taten. Aber zumindest jetzt waren sie ihnen wohlgesonnen. Es war kein trockenes und damit brandgefährliches Gewitter, das dort aufzog. Nein, dieses Gewitter war von Ygdra gesegnet. Wenn das Unwetter tatsächlich zu ihnen herüberzog, würde der Himmel alle Schleusen öffnen und das Land unter Wasser setzen.

Als er seinen Blick wieder senkte, waren Torgon und Ekarna schon herangekommen, und in der Ferne glaubte er Larkar zu sehen, der an Sedaks Seite so schnell wie möglich zu ihnen aufschloss.