»Nichts«, keuchte sie. »Ich will gar nichts.«
Amar sah sie grimmig an, doch dann stahl sich ein böses Lächeln auf seine Lippen. »Und wie wäre es mit dem Leben deines Sohnes?«
Lexz’ Kopf fuhr herum, als der Kampflärm zu ihnen zurückkehrte. Er begriff nicht ganz, was da gerade geschehen sein mochte, und schon gar nicht, was Isana gesagt hatte. Und erst recht nicht begriff er, was er gerade sah - oder wen.
Larkar, den Mann, den man den Speer nannte.
Es war eine Reihe endloser Augenblicke gewesen, in denen Lexz an dem Leichenpfuhl gestanden und in diese fürchterliche Brühe gestarrt hatte, in die die Bewohner dieser Region in ihrer Hilflosigkeit die Opfer der entstellenden Krankheit geworfen hatten. Endlose Augenblicke, in denen er innerlich von Larkar Abschied genommen hatte. Er hatte seine Waffe dort treiben sehen, den gefürchteten Speer, den er nur zu gut kannte.
Larkar trennte sich jedoch nie von der Waffe, der er seinen Beinamen verdankte. Also war Lexz davon ausgegangen, dass sein Freund aus jenen fernen unbekümmerten Kindheitstagen tot sein musste.
Aber das war er nicht.
Larkar war hier, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Er sah allerdings fürchterlich aus. Seine Kleidung war zerfetzt, sein Gesicht in den Tagen, die sie sich nicht gesehen hatte, noch schmaler geworden, und er starrte vor Dreck. In seinen Händen hielt er einen großen, blutverschmierten Steinbrocken, mit dem er wohl gerade den Mann niedergeschlagen hatte, der dort mit blutüberströmtem Gesicht vor ihm lag: einen der Krieger Amars.
Womit auch klar war, auf wessen Seite sich Larkar geschlagen hatte. Auf die gleiche, auf der auch Lexz stand.
Als seine Hand mit einiger Verspätung zu dem Schwert auf seinem Rücken fuhr, sah er, dass sich nicht weit von ihm entfernt gerade Amar erhob. Der Hohepriester hielt sein Handgelenk umklammert, als sei es verletzt, und starrte auf die Frau, die da vor ihm mit schlagbereit erhobenem Schwert stand.
»Arri«, keuchte Larkar. »Vorsicht!«
Arri? Lexz war vollkommen verwirrt. Arri, die Tochter Leas, von der Dragosz ihm erzählt hatte - das sollte die Kriegerin mit diesem außergewöhnlichen Schwert sein? Aber wie ...?
Larkar drehte sich zu ihm um, als merke er, dass Lexz in seine Richtung starrte. Sein Blick fuhr erst zu Ekarna, und in sein Gesicht trat ein Ausdruck des Entsetzens, da er begriff, dass die Raubkatze tot war. Lexz sah den Schmerz in seinen Augen, und als er sein Erschrecken erkannte, erschrak auch er wieder, als begriffe er jetzt erst wirklich, dass Ekarna tot war.
Dann begegneten sich ihre Blicke, und die Schatten der Dunkelheit griffen so schlagartig und plötzlich nach Larkar, als hätten die Götter entschieden, den dunklen Schleier der Barmherzigkeit über das schreckliche Geschehen zu senken. Was eben noch halbwegs deutlich zu erkennen gewesen war, begann nun ganz schnell in tiefer Finsternis zu versinken.
Als habe Amar nur darauf gewartet, sprang er plötzlich vor. Lexz nahm ihn nur noch als dunklen Schatten wahr, der nichts anderes wollte, als sich die Kriegerin zu holen, die ihm nach dem Leben trachtete. Die Hand des Hohepriesters fuhr haarscharf an der Schneide ihres Schwerts vorbei, erwischte ihr Handgelenk und umklammerte es mit aller Kraft. Arri schrie auf und prallte zurück. Ihre Klinge zuckte hoch, um sich in Amars Leib zu bohren. Doch der Hohepriester versuchte gar nicht, sie zu Boden zu reißen - womit sie wohl gerechnet hatte -, sondern wich mit einer blitzschnellen Bewegung zurück, um ihrem Gegenangriff zu entgehen. Sein Kopf schwang sich wie eine Axt auf den Kopf der jungen Frau zu.
Arri versuchte auszuweichen. Doch ihre Reaktion kam zu spät. Amars Kopf krachte mit voller Wucht gegen ihre Stirn. Arris Haare flatterten auf, als ihr Kopf zurückflog und sie nach hinten kippte. Lexz glaubte im letzten Licht des zu Ende gehenden Tages zu erkennen, wie sie ihn aus entsetzten Augen weiter anstarrte, die sich dann aber augenblicklich trübten. Sie torkelte noch zwei, drei Schritte weit nach hinten, bevor sie ein ersticktes Keuchen ausstieß und zu Boden ging.
Lexz’ Hand riss sein Schwert hervor und stürzte nach vorn. Er kam jedoch zu spät. In Amars Hand blitzte plötzlich etwas auf, und er drehte sich zu ihm, mehr ein Schatten als ein Mann, mehr ein Dämon als ein Krieger.
»Nein!«, schrie Larkar und sprang vor.
Das blitzende Etwas schoss aus Amars Hand nach vorn. Ein Messer. Es zielte auf Lexz, und er begriff sogleich, dass seine Ausweichbewegung zu spät kommen würde.
Das Messer beschrieb einen blitzenden Bogen, bevor es sich mit einem hässlichen Geräusch in Larkars Brust bohrte.
Arri hatte noch versucht, nach hinten auszuweichen, dabei war sie zwar schnell genug gewesen, um Amars Angriff die allergrößte Wucht zu nehmen, aber doch nicht so schnell, um nicht zurückgeschleudert zu werden und zu Boden zu gehen. Der Treffer, den er ihr verpasst hatte, war so heftig, dass sie fast das Bewusstsein verlor.
Aber auch nur fast.
Sie stemmte sich hoch und griff nach ihrem Schwert - und sah dann, wie sich Amar von ihr abwandte, ein Messer aus seinem Gürtel riss und es wegschleuderte. Sie sah die hell glitzernde Bahn der Klinge, die das letzte bisschen Licht des sterbenden Tages aufzufangen schien, und dann musste sie zusehen, wie Larkar ihr in den Weg sprang ...
Das Geräusch, mit dem sich die Bronze in Larkars Leib fraß, klang wie das Zerreißen von Stoff, nur um ein Vielfaches schlimmer. Der Speer bäumte sich auf, griff nach dem Messer und riss es sich aus der Wunde - und brach dann so plötzlich zusammen, als hätte man ihm die Beine unter dem Körper weggeschlagen.
Arri kam mit einer unsicheren, aber schnellen Bewegung auf die Beine. Sie war wie von Sinnen. Amar hatte Larkar niedergestochen, sinnlos, grausam und dazu noch vollkommen unnötig.
Das Schwert in ihrer Hand war nun mehr als nur eine Waffe, es war der verlängerte Arm ihres unbändigen Zorns. Bevor sie eine bewusste Entscheidung treffen konnte, schnellte ihr Waffenarm vor.
Im allerletzten Augenblick fuhr Amar noch herum. In der Dunkelheit war nur das Weiß seiner weit aufgerissenen Augen zu erkennen. Seine Unterarme kamen in einer verzweifelten Abwehrbewegung hoch. Gleichzeitig versuchte er nach hinten wegzuspringen ...
Die Klinge fuhr in ihn hinein und schlitzte den Hohepriester auf.
»Arianrhod«, keuchte er. »Warum das? Wir beide hätten doch ...«
Dann brach er zusammen.
EPILOG
Tief atmete Arri die warme Luft ein, die von den blühenden Feldern her über den See heranwehte und unendlich süß nach Leben duftete. Ihr Blick war auf den dunklen Einbaum gerichtet, der scheinbar ziellos im Wasser trieb. Wobei ziellos gewiss nicht ganz passte, wenn Torgon und Kyrill gemeinsam unterwegs waren. Die beiden hatten sich wahrscheinlich ein Abenteuer vorgenommen, von dem sie Arri aus guten Gründen vorher nichts erzählt hatten.
Mindestens drei Interessen hatten die beiden gemeinsam: Essen, Abenteuer erleben und Schabernack treiben.
Die Frage war, was sie diesmal wieder vorhatten. Arianrhod schwante gar nichts Gutes. Torgon und Kyrill hatten heute Morgen sehr geheimnisvoll getan und so albern gekichert, dass sie nur die Augen hatte verdrehen können. Eine vernünftige Antwort war aus den beiden Kindern ohnehin nicht herauszubekommen gewesen. Wobei Torgon der Hammer eindeutig das größere Kind war.
Besser, sie wusste gar nicht so genau, was sich Torgon wieder ausgedacht und Kyrill mit freudig aufgeregtem Lachen quittiert hatte. Obwohl ... am Ende würde wieder sie es ausbaden müssen, wenn sie irgendjemandem einen Streich spielten. Aber ändern konnte sie daran dann sowieso nichts mehr.
Immerhin - alles war besser, als sich um die Kranken kümmern zu müssen, wie in der ersten Zeit nach Dragosz’ Tod. Bevor sie mithilfe des Runzelkrautes, das sie aus dem Schlingpflanzenwald geholt hatten, sowie einiger anderer Zutaten ein wirkungsvolles Heilmittel zusammengebraut hatten, waren die Ersten von ihnen bereits durch die tückische Krankheit entstellt gewesen - und Zakaan wirkte durch seinen nimmermüden Einsatz nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Aber schließlich war es doch der Schamane gewesen, der auf die richtige Rezeptur gekommen war, und sie hatte das Ganze dann zu einem wirkungsvollen Heiltrank zusammengebraut.