Lexz setzte dazu an, erneut nach seinem Freund zu rufen, brach dann aber schnell wieder ab und starrte stattdessen dorthin, wo er ihn eben noch zu sehen geglaubt hatte.
Da war es wieder: ein Farnstrauch, der erzitterte, Zweige, die wegknickten, und ein dunkler Schatten, der durchs Unterholz drängte.
»Larkar?«, flüsterte Lexz.
Irgendetwas stimmte da nicht. Larkar bewegte sich doch ... anders. Vorsichtiger, wenn es sein musste, zielgerichteter, wenn es nur darum ging, jemanden schnell einzuholen, der ohnehin schon eine Bresche durch den Wald geschlagen hatte. Und außerdem hatte er die Bewegung nicht in der Schneise wahrgenommen, die erst er selbst und dann vor allem Torgon in den Wald geschlagen hatte, sondern weiter rechts, inmitten dicht stehender Tannen und Fichten.
»Ich weiß ja nicht, wen du in mir siehst, alter Weggefährte.« Torgon tippte auf den schweren Bronzehammer, der in seinem Rindsledergürtel steckte, warf einen Blick in die Runde und wandte sich erst dann Lexz zu. »Aber ich bin Torgon der Hammer. Nicht Larkar der Speer.«
Lexz nickte flüchtig. »Ich weiß. Das ist ja nicht zu übersehen. Aber wo sind Larkar und Sedak?«
»Irgendwo hinter uns«, antwortete Ekarna anstelle des Dicken. Sie wischte sich mit der Hand über den Mund und machte »Bah!« Dann spuckte sie Lexz ein fingernagelgroßes Insekt vor die Füße.
Torgon blickte stirnrunzelnd auf den Boden. »Wie kann man Essen nur so einfach wegspucken?«, fragte er missmutig und wischte sich etwas von der schwarzen Farbe aus dem Gesicht, die von seiner Augenbemalung herabgelaufen war. Dann schüttelte er zur Bekräftigung ein weiteres Mal den Kopf. »Und noch dazu, da diese kleinen Viecher wahre Leckerbissen sind!«
Ekarna beachtete ihn gar nicht. »Ich habe gerade einen Schrei gehört«, der Blick ihrer graugrünen Raubtieraugen bohrte sich in Lexz’ Augen, »es klang fast nach deiner Stimme. Und ich glaube, auch den Namen Larkar verstanden zu haben.«
Lexz zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Ich habe nichts gehört.«
»Nein«, stellte Torgon fest, »weil du selbst der Schreihals warst, nicht wahr?« Plötzlich ließ er die rechte Hand vorschnellen - Lexz dachte schon, er wollte ihm einen Schubser verpassen. Doch stattdessen riss er einen Zweig heran, packte mit der anderen zu - und hielt etwas Zappelndes, Grünes zwischen den Fingern, von dem Lexz gar nicht so genau wissen wollte, was es war.
Ein paar Augenblicke später hätte er es auch nicht mehr sagen können. Denn da war das zappelnde Etwas schon zwischen Torgons fleischigen Lippen verschwunden.
»Man schreit nicht in fremden Wäldern herum«, fuhr Torgon schmatzend fort, schluckte krampfhaft und hustete kurz auf, als bekäme er sonst die Kehle nicht frei von seiner merkwürdigen Zwischenmahlzeit. »Schon gar nicht, wenn Dragosz’ Leute in der Nähe sein könnten.«
»Oder irgendeine Fremde, die eine Himmelsscheibe durch die Gegend schleppt«, ergänzte Ekarna.
»Genau«, schmatzte Torgon. »Ich möchte mal wissen, warum unser Schamane uns eigentlich diese Arianrhod suchen lässt. Selbst wenn sie hier irgendwo wäre, würde sie uns wohl kaum freudig entgegenlaufen, sobald sie uns hört.« Er warf Lexz einen bezeichnenden Blick zu. »Wobei du ja dafür gesorgt hast, dass man uns nicht überhören kann.«
Lexz hatte gerade den Mund geöffnet, um zu sagen, dass er jemanden an einer besonders wenig einsichtigen Stelle des Waldes hatte herumschleichen sehen. Aber ... vielleicht hatte er sich ja auch getäuscht. Oder es war tatsächlich Larkar gewesen, der zusammen mit Sedak irgendetwas entdeckt hatte, das sie aus der Nähe erkunden wollten.
Jedenfalls wäre es unklug gewesen, Torgon jetzt davon zu erzählen. Das hätte das Feuer seiner Empörung über Lexz’ unbedachtes Verhalten nur vollends entfacht. Auf der anderen Seite ... vielleicht wäre es der dritte Fehler, wenn er seine Beobachtung jetzt verschwieg. Denn wenn er sich nicht getäuscht hatte, und tatsächlich ein Fremder dort gewesen war ...
Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, berührten ihn die ersten Tropfen des Regens, der sich die ganze Zeit über schon angekündigt hatte, und Torgon wandte sich ab und sah zurück in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.
»Geht es jetzt endlich los?«, fragte Ekarna hoffnungsfroh und leckte sich einen Tropfen von den Lippen, kaum dass sie sich neben Torgon gegen einen Baum gelehnt hatte.
»Sieht ganz danach aus«, brummte Torgon. Er wandte sich wieder um, und Lexz schien es, als zögere er. Hatte er vielleicht auch etwas entdeckt ... und war sich jetzt - genauso wie Lexz - unsicher, was für eine Art Leben sich in den Tiefen des Waldes verbergen mochte?
Torgon atmete tief aus und schüttelte den Kopf, als wolle er damit zugleich einen störenden Gedanken wegschütteln. »Regen ist ein gutes Zeichen. Der Schamane hat behauptet, dass die Luft voller Feuchtigkeit sein wird, sobald wir uns Urutark nähern.«
»Jedes Kind weiß, was uns Zakaan prophezeit hat.« Lexz ließ die Bäume nicht aus den Augen, zwischen denen er vorhin die Bewegung wahrgenommen zu haben glaubte. »Also lasst uns keine Zeit verschwenden. Suchen wir die beiden anderen - und dann nichts wie raus aus diesem Wald.« Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Hier gefällt es mir nicht.«
»Mir auch nicht«, pflichtete ihm Ekarna bei. »Im Dickicht kann sich alles Mögliche verbergen. Und damit meine ich nicht unbedingt eine Fremde mit einer Himmelsscheibe.«
»Über die zu reden ohnehin nicht lohnt, weil sie sich bestimmt bei Dragosz findet, und nicht hier.« Torgon sah sich in allen Richtungen um. »Immerhin müssen wir Larkar nicht entgegengehen. Der klebt doch sowieso immer an Lexz’ Fersen. Er wird gleich hier sein.«
»Der klebt überhaupt nicht an meinen Fersen«, empörte sich Lexz. »Nur, weil wir beide schon so manchen Kampf gemeinsam ausgefochten haben ...«
»Aber seit eurem letzten Kampf humpelt er doch ein bisschen, dein alter Kampfgefährte«, flüsterte Ekarna. »Und da fragt man sich, warum er uns überhaupt begleitet.«
Lexz spürte, wie erneut eine Welle puren Zorns in ihm hochstieg. »Willst du damit etwa sagen, dass Larkar ein Krüppel ist, Raubkatze?«
»Nenn mich nicht Raubkatze!«
»Warum denn nicht?«, gab Lexz zurück. »Das ist doch dein Beiname. So wie der Beiname von Larkar der Speer ist, und nicht der Krüppel ...« Er trat einen Schritt auf das Mädchen zu. »Ich hoffe, das ist dir klar.«
Ekarna erwiderte seinen Blick, und wenn ihre Augen vor Empörung oder Wut gefunkelt hätten, so hätte Lexz das verstanden. Aber es war viel schlimmer. Ihre Augen waren voller Trauer. »Viele gute Männer sind gestorben, und damit sind die alten Regeln auch nicht mehr gültig«, sagte sie so leise, dass er sie kaum verstehen konnte. »Und nur deshalb hat Ragok der Bezwinger zugestimmt, dass Frauen und Krüppel auf einen Erkundungsgang mitgehen können. Aus keinem anderen Grund.«
Lexz öffnete den Mund, um ihr eine wütende Bemerkung entgegenzuschleudern - und schloss ihn dann wieder. Ekarna hatte ja recht. Sie hatten viele Opfer bringen müssen, und zahlreiche gute Männer und Frauen waren gestorben, nicht nur sein über alles geliebter Bruder. Jetzt durften sie nicht mehr wählerisch sein. In den alten Zeiten wäre es undenkbar gewesen, eine Frau auf einen Spähtrupp mitzunehmen - oder auch jemanden, der eine frische Verletzung noch nicht ausgeheilt hatte.
»Und wenn dir so viel an Larkar, dem Speer, liegt«, fuhr Ekarna unbarmherzig fort, »dann solltest du demnächst auf ihn warten, statt wie ein angestochener Auerochse durch den Wald zu stürmen.«
Auch damit hatte sie recht, und diesmal spürte Lexz, wie seine Wut vollends zusammenbrach und etwas anderem Platz machte, für das er keine Worte hatte.
»Ich weiß nicht«, murmelte Torgon. »Ich kenne diese Gegend ja nicht - und ich bin auch keine Wälder mehr gewöhnt, in denen es vor Leben nur so wimmelt. Aber ...«