Ekarna löste ihren Blick von Lexz und atmete tief durch, bevor sie sich umwandte und in die Richtung starrte, in die auch Torgon blickte. »Hast du etwas gesehen?«
»Ja. Nein.« Voller Unbehagen zuckte Torgon mit den Schultern. »Natürlich habe ich etwas gesehen. Der ganze Wald ist ja voller Leben.«
»Du weißt genau, was ich meine«, fauchte die Raubkatze. »Unbedingt müssen wir die Siedlung der Verräter erreichen, bevor uns das Unwetter daran hindern kann.«
»Meinst du denn, es wird tatsächlich noch eines geben?«, fragte Torgon.
Ekarnas Blick wanderte sehnsüchtig nach oben. »Ich wünschte mir, der Regen wäre nicht so schnell vor uns geflohen. Er soll wiederkommen. Ich bin schon lange nicht mehr bis auf die Knochen nass geworden.«
Torgon nickte bedächtig. »Ja, das klingt ganz nach dir. Wahrscheinlich würdest du es noch genießen, wenn man dich in einem See versenkte.«
»Für eine Weile bestimmt«, gab Ekarna zu. »Aber ich habe keine Lust, mit Fischen um die Wette zu schwimmen.«
»Ich auch nicht.« Torgon leckte sich über die fleischigen Lippen. »Fische sind zum Essen da, für nichts anderes.«
Lexz winkte ab, als Ekarna auf Torgons Worte reagieren wollte. »Wir werden Essen im Überfluss haben, und das schon bald.« Er kniff die Augen zusammen. Was, bei Wurgar, war dort hinten los? Knackten da nicht schon wieder ein paar Zweige? »Wir werden erst einmal Dragosz zermalmen«, stieß er hervor. »Wo auch immer wir ihm oder seinen Männern auch begegnen mögen. Das wird die Götter schon besänftigen!«
Ekarna zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob wir den Kampf mit Dragosz wirklich schon jetzt aufnehmen sollten, so erschöpft und ausgelaugt, wie die meisten von uns sind ...«, sie ließ ihren Blick über Torgon schweifen, »na ja, vielleicht nicht alle von uns, aber eben doch die meisten ...«
Torgon sah einem farbenfrohen Schmetterling hinterher, als überlege er, ob der für eine weitere kleine Zwischenmahlzeit tauge, und grinste dann. »Du bist ja bloß neidisch.«
»Unsinn«, widersprach Ekarna. »Ich glaube nur, dass wir nichts übereilen sollten. Wenn wir hier auf üppiges, reiches Land stoßen, dann sollten wir es erst einmal in Besitz nehmen - und später sehen, dass wir wieder zu Kräften kommen, bevor wir über Dragosz herfallen.«
»Üppiges, reiches Land lässt sich nicht so einfach in Besitz nehmen.« Torgon stieß einen kleinen Seufzer aus, als der Schmetterling aus seiner Sicht verschwand. »Es gibt immer irgendjemanden, der Ansprüche daran stellt. Und den muss man erst davon überzeugen, dass man selbst die besseren Argumente hat.« Er klopfte auf den Bronzehammer, der aus seinem gut gespickten Waffengürtel hervorstach, als warte er nur darauf, hervorgezogen zu werden, um auf dem Kopf eines Feindes zerschmettert zu werden.
»Es gibt kein besseres Argument als Hunger.« Ekarna blinzelte Torgon zu. »Oder willst du mir da etwa widersprechen, Dickerchen?«
»Ja, macht euch nur alle lustig über mich«, gab Torgon mürrisch zurück. »Nur weil ich Dinge esse, die kein anderer von euch herunterbekommt.«
»Gegen Insektenlarven und Regenwürmer habe ich ja gar nichts mehr einzuwenden«, bemerkte Ekarna. »Aber gerösteter Krötendung, das ist doch wirklich ekelhaft.«
»Einem knurrenden Magen ist jede Mahlzeit willkommen«, meinte Torgon lakonisch. »Außerdem macht es die Mischung. Oder was hältst du von einer feinen Suppe aus zerstoßenen Vogelhirnen, Rattenschwänzen und Augäpfeln?«
Lexz hatte den immer gleichen Streit zwischen den beiden jetzt nicht verfolgt und war stattdessen ein paar Schritte vorgetreten und drückte ein paar ausladende Zweige auseinander. Er war ein guter Späher und normalerweise durch nichts zu verwirren. Warum wollte es ihm bloß jetzt nicht gelingen, das mit den Augen zu erfassen, was da ein gutes Stück weit entfernt von ihnen geschah? Zakaan hatte ihm beigebracht, wie man Bewegungen durch einen geheimen Ahnen-Zauber verbergen konnte: Und auch, wenn Lexz das selbst noch nie wirklich gelungen war, so bezweifelte er doch nicht, dass es möglich sein musste.
Was nun, wenn sich da jemand an sie heranschlich, der mit seinen Ahnen im engsten Bunde stand - und dadurch tatsächlich in der Lage war, sich selbst seinem wachsamen Blick zu entziehen?
»Gegen Augäpfel habe ich ja gar nichts«, sagte Ekarna. »Aber Rattenschwänze ...«
»Hört doch endlich mal damit auf«, unterbrach sie Lexz ärgerlich. »Ich fürchte, wir haben andere Sorgen, als uns um unseren Speiseplan Gedanken machen zu müssen ...« Er brach ab, als er ein Geräusch zu hören glaubte, das diesmal näher wirkte. Er wirbelte in die Richtung herum, aus der sie gekommen waren.
»Das ist doch ekelhaft, was du alles in dich hineinstopfst«, begehrte Ekarna gerade auf, ohne auf Lexz’ Worte einzugehen. »Und alles nur um dick und fett zu bleiben ...«
»Während andere verhungern?« Torgon nickte ernsthaft. »Aber verstehst du das denn nicht? In der Not muss man versuchen alles herunterzuwürgen, was irgendwie nahrhaft ist, und wenn sich der Magen noch so sehr dagegen sträubt.« Torgon mustere Ekarna mit einem anzüglichen Blick. »Wer das nicht tut, ist selbst schuld, wenn er vor Entkräftung so dürr wie ein dünner Fichtenstamm wird und irgendwann auseinanderbricht.«
»Also, hör mal, das ist ja wohl eine Frechheit, du Vielfraß! Wer auf aufgeblasenen Füßen durch die Welt stampft und mit jedem Schritt einen Fettklecks hinterlässt, sollte den Mund lieber nur beim Essen und nicht beim Sprechen voll nehmen!«
Da war es wieder. Ein leises Knacken, als breche ein Zweig, gefolgt von einem Geräusch, das klang, als werde Gestrüpp unter einem Fuß zusammengedrückt. Ekarna bemerkte es jetzt offensichtlich auch. Sie reagierte sofort und legte Torgon einen Finger auf die Lippen, als der zu einer Antwort ansetzen wollte.
»Wo sind die anderen?«, flüsterte Lexz. »Wo, bei Wurgar, ist Larkar?«
Torgon kniff die Augen zusammen, was seine Augenbrauen nach unten wandern und ihn wie ein zu groß geratenes Kind aussehen ließ. Und Ekarnas Hand strich kurz über seine rundliche Wange, bevor sie ihm eine leichte Ohrfeige versetzte und sich von ihm abwandte. Die angespannte Stellung, die sie einnahm, erinnerte Lexz nicht im Geringsten an einen dürren Fichtenstamm, der gleich auseinanderbricht, sondern eher an eine sprungbereite Raubkatze, die gerade Witterung aufnimmt. »Larkar und Sedak waren kurz hinter uns«, hauchte sie.
Torgon hatte die Hand zur Wange hochgenommen, und jetzt wirkte er noch mehr als zuvor wie ein Kind, und zwar wie eines, das gerade von seiner Mutter abgestraft worden war. »Wir hätten auf sie warten müssen«, bemerkte er unnötigerweise. »Es ist nicht klug, sich hier zu trennen. Wie ich Dragosz kenne ...«
Er brach ab, denn jetzt knackte es erneut, diesmal aber noch näher und auch lauter. Lexz lief ein kalter Schauer über den Rücken. Torgon hatte leider nur zu sehr recht. Sich zu trennen, war immer ein Risiko - dies aber zu tun, nur weil einen die Wut übermannte, war ein ganz unverzeihlicher Fehler. Er konnte nur hoffen, dass Larkar deswegen nicht in Gefahr geraten war.
»Da schleicht sich jemand an uns heran«, flüsterte Ekarna. »Und ich wüsste nur allzu gern, ob das Larkar und Sedak sind.«
»Das sind sie natürlich nicht.« Torgon ließ die Hand auf den Griff seines Bronzehammers sinken und starrte aus zusammengekniffenen Augen ins Halbdunkel. »Die müssten sich doch nicht wie Diebe durchs Gebüsch drücken.«
»Es sei denn, sie hätten einen besonderen Grund dafür«, flüsterte Lexz. »Und das würdet ihr auch wissen, wenn ihr zusammengeblieben wärt.«
»Da hast du allerdings recht«, gab Torgon leise zurück. »Aber du musstest ja unbedingt losrennen, als wolltest du einen Wettbewerb gewinnen. Was ist da eigentlich in dich gefahren? Du weißt doch, was dir dein Vater immer wieder eingeprägt hat ...«
Ekarna legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Still, ihr Quassler. Streiten können wir später.« Sie zog die Steinaxt aus dem Gürtel, die sie so selbstverständlich begleitete wie Lexz das Bronzeschwert, das er auf dem Rücken trug. Auch Torgon zog jetzt eine Waffe, ein schartiges Schwert mit aufwendig gefertigtem Griff, dem man ansah, dass es sein Träger schon in mancher Auseinandersetzung auf den Schädel eines Gegners hatte krachen lassen.