Abdurezak schien das genauso zu sehen. Statt sich um sie zu kümmern, wie es zweifellos zunächst seine Absicht gewesen war, legte er Taru in einer beruhigenden Geste die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Junge reagierte darauf, wie es für einen Jungen seines Alters - und für ihn im Besonderen - ganz üblich war: mit Trotz. Sein Kopf fuhr zu Abdurezak herum.
»Nein«, zischte er. »Das tue ich nicht.«
Abdurezak antwortete gar nicht darauf. Er sah Taru nur an. Alles verspannte sich in dem muskulösen Jungen, und einen flüchtigen Augenblick lang sah es fast so aus, als werde er den alten Mann packen und ins Wasser stoßen. Doch dann trat er einen raschen Schritt zur Seite und lehnte sich an das Geländer aus roh zurechtgezimmerten Ästen.
Abdurezak trat mit einer erstaunlich schnellen und sicheren Bewegung an ihm vorbei. Auf seinem verwitterten Gesicht zuckte kein Muskel, als er seine dichten weißen Haare zurückstrich, bevor er sich zu ihr hinabbeugte.
»Diese Nacht konnte ich dir gewähren, Arianrhod«, flüsterte er ihr zu. »Mehr nicht.«
Arri sah verwirrt zu ihm auf. Aus der Totenwacht war sie noch immer nicht vollkommen in die Wirklichkeit zurückgekehrt, und fast schien es ihr, als griffe jetzt Dragosz nach ihr, um sie zurückzuhalten und sie zu sich herabzuziehen in den Einbaum, um sie auf die einsame Reise über den Frykr mitzunehmen: hinab ins Reich der Toten.
»Du musst Abschied nehmen«, fuhr Abdurezak fort. »Hier und jetzt.«
Arri schüttelte den Kopf. Ein Gespinst aus Selbstvorwürfen, Verzweiflung und Trauer hielt sie wie ein engmaschiges Netz gefangen, in das sie sich nur umso tiefer verstrickte, je verzweifelter sie sich daraus zu befreien versuchte. Aber sie wusste, was sie auf keinen Fall wollte: hier und jetzt von dem Mann Abschied nehmen, der ihr das Leben bedeutet hatte.
»Ich will dich nicht in deiner Trauer stören«, sagte Abdurezak so leise, dass seine Worte im Rascheln seines Gewandes beinahe untergingen. »Aber ich fürchte, wir müssen Dragosz jetzt für seine letzte Reise vorbereiten, auf dass er seinen Ahnen reinen Herzens gegenübertreten kann. Und dabei störst du, Arianrhod, du, deren Vorfahren weit entfernt von uns lebten und Geheimnisse hatten, die uns nun zu verderben drohen.«
Arri riss den Kopf hoch. Bis auf Taru gab es niemanden, der sie bei ihrem alten Namen Arianrhod nannte. Aber nicht das war es, was sie aufschreckte. »Ich störe?«, fragte sie fassungslos.
Der alte Mann nickte, und die Trauer in seinen Augen schien dabei stärker zu sein als alles Entsetzen über das, was gestern geschehen war. »Ja. Ich fürchte, du bist fehl am Platz, wenn wir Dragosz für die Reise über den Frykr vorbereiten.«
»Ich bin fehl am Platz?« Arris Herz raste, als sie zu dem alten Mann hochsah, für den sie bislang nichts anderes als Hochachtung empfunden hatte. »Aus welchem Grund sollte gerade mein Platz nicht an der Seite meines Mannes sein?«
Abdurezak richtete sich langsam auf, und jetzt sah er auch zu dem Einbaum hinüber - und wie es Arri schien, versenkte sich sein Blick in den des toten Kriegers. Seit sie ihre alte Heimat verlassen hatten, um das gelobte Land ihrer Ahnen zu suchen, waren Abdurezak und Dragosz fast so etwas wie Vater und Sohn gewesen. Der Schmerz, den der alte Mann über seinen Tod empfand, mochte kaum weniger brennend sein als der ihre.
»Warum sollte denn gerade ich dabei stören?«, wiederholte sie störrisch. »Ich bin doch seine Frau!«
Abdurezak schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Das bist du nicht mehr. Wir haben die Totenzeremonie durchgeführt. Ich selbst habe aus den Eingeweiden eines frisch getöteten Speerreihers Dragosz’ Schicksal gelesen.«
»Wie ...?«, fragte Arri ängstlich. »Und was hast du dort gelesen?«
Beschwichtigend hob Abdurezak die Hand. »Beruhige dich, Kind. Dragosz’ Reise über den Frykr und hinab ins Reich der Toten, sie wird glücken, und er wird dort auf ewig als großer Krieger geehrt werden. Dort wird er sich erneut mit Surkija vermählen. Dir selbst ist aber ein anderes Schicksal zugedacht.«
»Mit Surkija vermählen?« Zuerst verstand Arri überhaupt nicht, was der alte Mann damit meinte. Doch dann tröpfelte der Sinn seiner Worte langsam in ihre Seele. »Aber das ist doch nicht möglich! Ich bin jetzt seine Frau! Wir beide sind für die Ewigkeit bestimmt!«
»Nein.« Wieder schüttelte der alte Mann den Kopf, und eine ehrliche Trauer lag in seinen Zügen. »Surkija ist Dragosz’ Gefährtin für die Ewigkeit. Es war ein großes Unglück, dass sie bei der Geburt von Dragosz’ zweitem Sohn starb, zumal das Kind ihren Tod nur um wenige Wochen überlebte. Doch jetzt wird Dragosz die beiden wiedersehen. Sie werden sich als Familie wiedervereinen, das habe ich in den Eingeweiden des Vogels ganz deutlich erkennen können.«
Vogeleingeweide. Lächerlich. Was hatten die mit ihr und Dragosz zu tun?
»Du weißt, was das bedeutet?«, setzte Abdurezak nach.
»Nein, das weiß ich nicht«, flüsterte Arri zwar, aber eigentlich hätte sie sagen müssen: »Nein, das will ich nicht wissen.«
»Das bedeutet, dass wir dir hiermit den Rang als rechtmäßige Frau von Dragosz, unserem Herrscher, für immer und alle Zeiten aberkennen«, fuhr Abdurezak unbarmherzig fort. »Das Gleiche gilt auch für deinen Rang als Heilerin.«
Heilerin? Das kümmerte sie gar nicht. Alles, was sie im Augenblick interessierte, war Dragosz!
»Das könnt ihr nicht tun!« Die letzten Worte schrie sie fast heraus. »Ich soll nicht mehr seine Frau sein? Und das sagst ausgerechnet du, der in der Zeremonie der Ehe die heiligen Worte gesprochen hat?«
Abdurezak nickte traurig. »Ja, das sage ausgerechnet ich. Weil ich auch der Einzige bin, der das wieder trennen kann, was ich im Namen der Götter zusammengefügt habe.«
»Das ist doch gar nicht möglich«, stammelte Arri. »Niemand kann uns auseinanderbringen.«
Abdurezaks rechte Augenbraue wanderte nach oben. »Noch nicht einmal der Tod?«
»Ganz sicher nicht der Tod«, Arri deutete mit den gefesselten Händen auf das Boot, »wo auch immer Dragosz ist, ich werde nicht aufhören, ihn zu ehren und zu lieben.«
»Aber nicht mehr als seine Frau«, sagte Abdurezak sanft. »Seine Frau ist Surkija.«
»Surkija ist tot!«, begehrte Arri auf.
»Ja. Und das bist du auch bald.« Als sich Abdurezak bei diesen Worten straffte, huschte ein Schatten über sein von Falten und Runzeln überzogenes Gesicht. »Du wirst die nächsten Schritte alleine gehen müssen. Der Bund mit Dragosz ist getrennt. Endgültig. So sei es.«
»Nein«, wimmerte Arri. »Ich bin seine Frau.«
»Du wirst fortan ... nichts mehr sein«, beschied sie der Alte. Über sein Gesicht lief eine Welle des Unmuts, und plötzlich sah er noch älter aus, als er ohnehin schon war: fast wie eine Totenfratze. »Jedes weitere Wort dazu wäre Verschwendung«, sagte er nun grob. »Es ist entschieden. Wenn wir die Fesseln lösen, wirst du dich als freie Frau erheben.«
Arri war jetzt völlig verwirrt. »Als freie Frau?«, wiederholte sie. »Aber ... ich dachte ...«
»Du wirst dich ohne Fesseln erheben, und dann werden wir dir den Prozess machen.«
Arri hatte geglaubt, dass es nicht noch schlimmer kommen konnte. Aber das stimmte nicht. Dass sie ihr den Prozess machen wollten, dass sie sie bestraft sehen wollten - damit hatte sie ja schon gerechnet. Aber ihr nach dem lebenden Dragosz auch noch den toten Dragosz zu nehmen, das war ... unfassbar.
Und alles zusammen war mehr, als sie ertragen konnte.
»Ich ... ich verstehe das nicht«, murmelte sie. »Von mir aus richtet mich. Schlagt mich tot, steinigt mich, verbrennt mich bei lebendigem Leib. Aber das ... das könnt ihr doch nicht tun ... ihr könnt mir doch nicht Dragosz nehmen!«
»Wir nehmen dir nur das, was du dir selbst schon genommen hast«, berichtigte sie Abdurezak, und dabei schwang eine Traurigkeit in seiner Stimme mit, die sie fast noch mehr traf als seine Worte zuvor.