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»Was soll das heißen?«, fragte sie atemlos.

»Das weißt du ganz genau.« Abdurezak runzelte die Stirn, als sein Blick auf einen Blutstropfen fiel, der von Arris zerbissener Lippe hinabrann. »Aber warum? Warum hast du es nur getan?«

»Aber was denn?«, flüsterte Arri. »Was soll ich getan haben?«

»Das weißt du selbst sehr genau«, antwortete der Alte.

Arri antwortete nicht, sondern kauerte sich stattdessen so weit wie möglich zusammen und starrte auf den See hinaus. Der Tag war nun vollends erwacht. Das Sonnenlicht spiegelte sich gleißend auf dem Wasser, ein Vogelschwarm stob vom Ufer auf und glitt wie selbstvergessen über den See. Über dem Schilf begannen die ersten Mücken zu tanzen. Gestern noch war es ihr vollkommen selbstverständlich erschienen, dass Tag auf Tag folgte und das Leben jedes Mal an dem gleichen Punkt begann, an dem es am Abend zuvor Abschied genommen hatte.

Jetzt war das anders. Zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie wirklich, dass nichts, aber auch gar nichts selbstverständlich war. Man konnte sich gestritten oder geliebt haben, man konnte am Feuer gedöst oder auf der Jagd gewesen sein, man konnte mit Fremden um Ware gefeilscht haben oder in eine Rauferei verwickelt gewesen sein - immer und überall konnte alles enden.

Und wenn man Pech hatte, dann verlor man das Liebste in seinem Leben.

»Du weißt genau, was ich meine«, wiederholte der Alte.

Arri nickte. Natürlich wusste sie es. Es war ihre Aufgabe gewesen, über den Opfertrank zu wachen, während er verfeinert und später in Krüge abgefüllt wurde. Sie war keine Fremde mehr im Dorf, aber sie gehörte auch nicht wirklich zu der uralten Gemeinschaft der Raker. Dragosz’ Volk hatte ihr von Anfang an misstraut, und zwar nicht nur, weil sie eine Fremde war, sondern auch, weil sie als Heilerin aus einer anderen Kultur über ein manchmal unverständlich anmutendes Geheimwissen verfügte. Wäre sie nicht von Anfang an Dragosz’ Gefährtin gewesen, so hätte man sie wahrscheinlich schon am ersten Tag mit Schimpf und Schande vertrieben.

Fast gewaltsam riss Arri den Blick von der friedlichen Spätsommerstimmung los, die über dem See lag. Sie ahnte, dass sie diesen Anblick nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Man würde sie ans Ufer bringen, dorthin, wo unter mächtigen Bäumen Gericht gehalten wurde. Oberster Gerichtsherr war Dragosz gewesen, doch auch er hatte kein Urteil gegen den Ältestenrat fällen können.

Und diesmal konnte er sie nicht in Schutz nehmen.

»Kind«, begann Abdurezak, und sie sah verwundert zu ihm hoch. Ihre Welt verengte sich dabei vollkommen auf das Gesicht des alten Mannes. Die Fältchen um seine Augen kündeten davon, dass er gerne und viel lachte, aber um seine Mundwinkel hatten sich auch tiefe Kerben eingegraben, die von Kummer und Leid kündeten.

»Du hast getötet«, fuhr Abdurezak fort. »Und nicht nur deinen Mann. Die gute alte Amara, der kränkliche Joguw, der erst vor Kurzem seine Frau verloren hat, und der kleine Prytio - sie alle sind in der Nacht qualvoll gestorben.«

»Das ist ...« Arris Stimme brach ab, dann fing sie sich wieder. »Das ist schlimm.«

»Ja, mein Kind. Schlimm.« Abdurezak seufzte. »Und so vollkommen unnötig. Hatten wir nicht schon eine Zeit schwerster Entbehrungen hinter uns? Hat es nicht gereicht, dass viele von uns auf der großen Wanderung an Hunger und Entbehrungen gestorben sind?«

»Doch«, antwortete Arri. »Das hat gereicht. Ich und Dragosz ... wir wollten euch ein besseres Leben schenken. Mit der neuen Weihestätte kann man die richtige Zeit für Aussaat und Ernte viel besser bestimmen als bislang. Und außerdem ...«

»Diese Weihestätte ist gestern Abend gestorben, mein Kind«, sagte Abdurezak leise, »zusammen mit Dragosz.«

Arri nickte langsam. Es war ihr gleich. Ihre Welt war nach Dragosz’ Tod eng und kalt geworden. Was interessierte sie da noch die Weihestätte, was die Himmelsscheibe? »Was habt ihr mit mir vor?«, fragte sie schließlich.

»Darauf gibt es nur eine Antwort.« Abdurezak richtete sich wieder auf und wandte sich zu dem zweitältesten Mitglied des Ältestenrates um. Der Mann war mittlerweile hinter ihm herangekommen. »Sie will wissen, was mit ihr geschehen wird. Und ich denke, sie hat auch ein Recht, es zu erfahren.«

Arri sah auf. Sie hatte vergessen, wo sie war. Während sie mit Abdurezak gesprochen hatte, war die Wirklichkeit Stück für Stück weggebrochen. Erst jetzt wurde sie sich wieder der Schmerzen an ihren wundgescheuerten Gelenken bewusst, und auch der Morgensonne, die ihr Gesicht nicht liebkoste, sondern mit ihren harten Strahlen attackierte, als wolle sie sie mit ihrer zunehmenden Hitze wegbrennen.

Ihr Blick fiel auf das Boot, in dem Dragosz lag. Ihr Dragosz, ihr Geliebter, der Mann, dem sie überall hin gefolgt wäre, bis auf den höchsten Berg, und wenn es hätte sein müssen, auch auf den Meeresgrund. Dragosz sah nun nicht mehr aus, als schliefe er. Im harten Licht der gnadenlosen Sonne schien es ihr eher so, als werde er jeden Augenblick blinzeln, tief durchatmen, sich keuchend aufrichten - um dann Abdurezak zu fragen, was der Unsinn denn eigentlich sollte, den er aus den Gedärmen eines Vogels herausgelesen haben wollte.

»Wenn sie unbedingt zu meinem Vater will, dann lasst sie doch«, hörte sie eine gehässige Stimme hinter sich sagen. »Schmeißt sie doch einfach ins Wasser - so, wie sie ist!«

Fast widerwillig löste Arri den Blick von Dragosz. Taru, richtig. Es befand sich nicht nur der alte Mann auf dem Steg, der sie mit seinen bitteren Worten gequält hatte, sondern auch der Junge, der sie mehr hasste als irgendetwas sonst auf der Welt.

Abdurezak murmelte ein paar Silben, die Taru mit einem halblauten Fluch beantwortete. Dragosz aber rührte sich nicht. Er blinzelte nicht, er atmete nicht tief durch, er rührte sich überhaupt nicht.

Er war tot.

Arri wandte endgültig den Blick von Dragosz ab. Es war, als wäre ihr Geliebter gerade zum zweiten Mal gestorben, als hätte Abdurezak ihr endgültig den Mann genommen. Und Arri begriff endgültig, dass auch sie selbst tot war, gestorben in dem Augenblick, in dem Dragosz seinen letzten Atemzug getan hatte.

Taru machte erneut eine hämische Bemerkung, aber diesmal verzichtete Abdurezak darauf, ihn zurechtzuweisen. Vielleicht gab er Dragosz’ Sohn ja insgeheim recht.

Aber nicht das war es, was Arris Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ein hagerer alter Mann mit tief gefurchtem Gesicht und einem Gebiss, das löchriger als ein Sieb schien. Der Alte hatte sich an Abdurezak vorbeigedrängt und starrte jetzt aus müden, blutunterlaufenen Augen auf sie herab. Dabei nickte er so langsam, dass die Bewegung kaum wahrnehmbar war.

»Rechte hat nur der, der auch das Recht hat, seine Rechte einzuklagen«, sagte er mit einer Stimme, die so rau klang, als würden Uferkiesel miteinander verrieben.

Arri musste sich erst räuspern, bevor sie ein »Was?« herausbrachte.

»Du hast keine Rechte mehr, weil du nicht das Recht hast, sie einzuklagen«, fuhr der Hagere fort, und während Abdurezak einen tiefen Seufzer ausstieß, fiel Arri wieder ein, wie man den Alten hinter seinem Rücken nannte: den Schwätzer. Auch seinen richtigen Namen hätte sie wissen müssen, aber er wollte ihr beim besten Willen nicht einfallen: Vielleicht auch einfach deshalb nicht, weil Schwätzer so gut zu ihm passte.

»Es hat inzwischen nicht nur drei, sondern fünf Tote gegeben«, stieß der Alte anklagend hervor. »Karan, der Halbwaise, und der kleine Juri, sie haben den Morgen nicht überlebt. Und noch immer winden sich zahllose andere in Krämpfen. Willst du denn nicht dein Gewissen erleichtern und uns endlich verraten, mit welchen bösen Kräutern du den Opfertrank versetzt hast?«

Arri zog es vor, nicht darauf zu antworten. Sie hatte nichts getan. Warum also sollte sie sich verteidigen?

»Gib zu, dass du eine Drude bist«, fuhr der Schwätzer fort, »dass du mit den bösen Geistern ein finsteres Bündnis geschmiedet hast, um uns alle zu verderben!«