Nun wurde ihr Liebster zum letzten Mal vom Licht der Morgensonne liebkost. Es schnürte ihr fast das Herz ab, ihn in seiner vollen Kriegermontur auf einem von schlichtem Leinen bedeckten Podest aufgebahrt zu sehen. Sein Gesicht war blass, fast fahl, die Ringe unter seinen Augen wirkten so, als wären sie mit Asche nachgezogen worden, und um seinen Mund, der von einem einsamen Lichtstrahl umspielt wurde, lag ein bitterer Zug. Es sah aus, als sei der Herrscher der Raker lediglich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf gefallen.
Einen Schlaf allerdings, aus dem er nie wieder erwachen würde.
Arri streckte die Hände vor, als sie ihren Liebsten so daliegen sah, und nun schnitten sich auch die Lederriemen, mit denen Taru die Handgelenke seiner verhassten Stiefmutter zusammengezurrt hatte, schmerzhaft tief in ihre Haut ein. Sie hätte nichts lieber getan, als Dragosz noch einmal zu berühren, ihm das lange Haar zurückzustreichen und seine Wange zu streicheln - so, wie sie es gewohnt war, wenn er sich von einem langen, harten Tag erschöpft zu ihr gesellt hatte - aufs Lager. Ihr das jetzt, nach seinem Tod, zu verwehren, fühlte sich so fürchterlich an, dass es ihr den Atem verschlug.
Die aufgebrachten Männer und Frauen, die sie im wilden Fackellicht hierher geschleift hatten, hätten sie am liebsten gleich an Ort an Stelle wie eine räudige Katze ersäuft; und vielleicht wäre es auch besser gewesen, wenn Arri ihr Leben schon in der Nacht ausgehaucht hätte, wenn sie gefühlt hätte, wie das Wasser in ihre Lungen drang, und wie ihr dann die Sinne geschwunden wären. Es wäre so viel besser gewesen, als die nicht enden wollende Demütigung der Fesselung zu ertragen. Dabei waren es gar nicht die harten Stricke, die ihr zu schaffen machten, obwohl sie ihre Haut wund scheuerten und in ihr Fleisch einschnitten. Sie hatte in ihrem kurzen Leben schon schlimmere Schmerzen ertragen.
Aber sie konnte sich an nichts erinnern, das schlimmer gewesen wäre als dies: Menschen, die sich vor Schmerzen krümmten, die sich erbrachen, die Schaum vor dem Mund hatten, die am Strand zusammenbrachen oder in verzweifelter Hoffnung auf die Hütte der Heiler zutaumelten. Ihren Schmerz zu spüren, ihre Wut und ihre Empörung, um dann zu begreifen, dass ja sie es war, der man die Schuld für die Katastrophe geben konnte. Noch jetzt spürte sie das Brennen auf der Kopfhaut - voller Brutalität hatte der kraftstrotzende Schmiedegehilfe Rar sie an den Haaren gepackt und hierher geschleift. Und noch jetzt glühten ihre Wangen von den harten Ohrfeigen der Frauen, die eine Wahrheit aus ihr hatten herausprügeln wollen, eine Wahrheit, die es doch gar nicht gab, nicht geben konnte.
Und dann hatten sie sie in ihrem Elend liegen lassen.
Irgendwann waren ihre Tränen schließlich versiegt, und sie war in etwas hinübergeglitten, das gar nicht weit von dem Todesschlaf entfernt schien, in den Dragosz schon seit gestern Abend versunken war. Erst das Plätschern von Wasser hatte sie wieder aus ihrer Erstarrung gerissen, und als sie dann den Kopf gehoben hatte, war ihr das große Feuer am Ufer aufgefallen, in dessen flackerndem Licht einige Männer damit beschäftigt waren, alles für die Todeszeremonie vorzubereiten. Mit brennenden Augen hatte sie beobachtet, wie Taru mit nacktem Oberkörper ins Wasser gestiegen war, um das Totenschiff mit einem rohen Tau hinter sich herzuziehen und es dann unmittelbar unter ihr zu vertäuen. Es schien endlos zu dauern, bis der Junge damit fertig war und sich unter dem wehklagenden Gesang der alten Weiber von seinem Vater verabschiedet hatte. Arri hatte - zur Untätigkeit verbannt - mit ansehen müssen, wie er zum Schluss mit übertriebener Sorgfalt noch den schlichten Umhang gerichtet hatte, bevor er ihr einen letzten hasserfüllten Blick zuwarf und dann zur Zeremonienhütte hinüberschwamm.
Fast gewaltsam riss sie den Blick von Dragosz’ Gesicht los, von den ebenmäßigen und doch so wild wirkenden Zügen, die sie von Anfang an angezogen hatten. Erst da begriff sie, was ihr insgeheim schon längst aufgefallen war: Sein Umhang war in Unordnung geraten und halb verrutscht. Sie biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass sie augenblicklich das Blut schmeckte. Fast sah es so aus, als hätte Dragosz mitten in der Nacht noch einmal seine mächtigen Muskeln angespannt, um sich hochzustemmen, als habe er sich in dem Einbaum aufrichten wollen, bevor ihn das Gift übermannt und er endgültig in sich zusammengebrochen war.
Arri zog ihre zitternden Hände so weit wie möglich zurück. Die Feuchtigkeit war mit dem Nebel gekommen, der sich in der Nacht über den See gelegt hatte, war in sie hineingekrochen und hatte die Hitze vertrieben, die sie zuvor erfasst hatte. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Mit dem Pulsschlag ihres hämmernden Herzens stieg etwas ganz Neues in ihr hoch, das die Hitze zurückbrachte: eine verrückte Hoffnung, alles könnte doch ganz anders sein, als sie geglaubt hatte. Was denn, wenn Dragosz tatsächlich noch nicht tot gewesen war, wenn sie sich geirrt und nur geglaubt hatte zu sehen, wie sein Blick brach und wie mit dem schmalen Speichelfaden, der sein Kinn hinablief, auch die letzte Lebenskraft aus ihm entwich?
Das Zittern ihrer Hände verstärkte sich, während ihr beängstigende Gedanken durch den Kopf schossen. Dragosz war gestern Abend in ihren Armen gestorben, und hätte man sie nicht mit Gewalt weggezogen, so würde sie seinen Kopf jetzt noch immer in ihrem Schoß halten und sein verschwitztes Haar streicheln.
Das war jedoch etwas, das sie nie wieder tun würde. Obwohl sie dies nicht zum ersten Mal dachte, erschien es ihr plötzlich so schmerzhaft und unfassbar, dass sie einen erstickten Laut von sich gab und ein weiteres Stück in sich zusammensackte.
Dragosz war tot, war unwiederbringlich von ihr gegangen. In dieser Nacht war kein Leben mehr in ihm gewesen, er hatte tot dagelegen - in dem Einbaum, hingestreckt von einem heimtückischen Gift, das seinen Körper hatte verkrampfen lassen und ihm den Schaum auf die Lippen getrieben hatte. Er hatte keinen Atemzug mehr tun können, hatte nicht die Hand nach ihr ausstrecken, sie nicht anlächeln und sie auch nicht mit einem scharfen Wort zurechtweisen können ...
Das Gefühl des Verlustes wurde übermächtig. Von ihrer Unterlippe lösten sich ein paar Blutstropfen und platschten leise vor ihr aufs Holz. Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Was würde sie nicht alles dafür geben, Dragosz noch einmal in die Arme nehmen zu können, um das heiße, pulsierende Leben zu spüren, das ihn bis gestern wie selbstverständlich durchströmt hatte!
»Dieser Abend wird etwas ganz Besonderes«, hatte Dragosz kurz vor dem Fest zu ihr gesagt. »Wir feiern nicht nur den Bau des Pfahldorfs, sondern auch den Beginn eines neuen Lebens. Und gleich am nächsten Morgen werde ich die Himmelsscheibe aus ihrem Versteck holen, und wir wollen zusammen mit Abdurezak versuchen, ihr Geheimnis zu ergründen. Ich verspreche dir, dass die Zeit des Leidens und der Entbehrungen damit endgültig vorbei sein wird!«
Die Zeit des Leidens und der Entbehrungen sollte vorbei sein? Nein, Dragosz, dachte sie jetzt, sie fängt doch gerade erst an.
Und das nur, weil sie gescheitert war. Dabei hatte sie alles versucht, um Dragosz wiederzubeleben. Sie hatte das geheime Wissen ihrer Mutter angewendet, um das Gift aus seinem Körper zu zwingen - aber es hatte nichts genützt. Sie hatte als seine Frau versagt, und ebenso als Heilerin - und jetzt würde sie auch noch als Mutter versagen.
»Warum nur, Dragosz?«, flüsterte sie. »Warum bist du nur von mir gegangen?«