»Wie ein Flügelansatz«, beendete Torgon ihren Satz. »Das ist es ja, was ich euch die ganze Zeit über sagen wollte.«
Ein Flügelansatz! Beinahe hätte Lexz laut aufgelacht, als Torgon dieses Wort in den Mund genommen hatte. Das Lachen verging ihm allerdings, als Ekarna aus der Hocke hochkam, Torgon mit einem Blick musterte, der von vornherein jede Gegenwehr im Keim erstickte, und sagte: »Dann wollen wir uns das doch mal aus der Nähe ansehen.«
Vorsichtig streckte sie den rechten Fuß aus, fand Halt und begann mit kleinen vorsichtigen Schritten in die Senke hinabzuklettern.
Nein, Senke war eigentlich nicht das richtige Wort. Eher war es eine Grube. Eine Grube, dachte er angewidert, und vollgestopft mit Leichenteilen. Sein Blick versuchte sich an Einzelheiten festzuhalten, aber das wollte ihm nicht gelingen. Zersplitterte Knochen und offene Wunden waren die eine Sache. Aber diese Leichenteile, die sich in unterschiedlichen Stadien der Verwesung befanden, das war mehr, als er ertragen konnte. Schwarze, aufgeplatzte Beulen, Eiter, geronnenes Blut, schwärende Wunden, abgerissene Gliedmaßen, zerschmetterte Gesichter, angefressene Augenhöhlen, und über all dem auch noch ein Gewimmel von schwarzen Käfern, Schmeißfliegen und Maden, die sich überall dort hineinbohrten, wo sie Nahrung zu finden hofften. Das Schlimmste aber war das, was aus Augen, Mund und Ohren herauskroch, das, was die Haut wölbte oder aufplatzen ließ - dieses ganze Gewimmel, das die Leichen in immerwährender Bewegung hielt.
Torgon starrte mit offenem Mund in Ekarnas Richtung, und er hätte wohl schon längst etwas gesagt, wäre er durch den grausamen Anblick nicht genau so gelähmt gewesen wie Lexz.
»Das ist ja ekelhaft«, sagte Ekarna. »Nur gut, dass ich nicht barfuß unterwegs bin.«
Lexz starrte dorthin, wohin ein Zug großer roter Ameisen unterwegs war: an den Rand der Grube, in die Ekarna gerade die Bärenfellsohle ihres linken Schuhs versenkte. Sofort machten sich einige der Ameisen daran, das aus mittlerweile zerschlissenem Hirschfell zusammengenähte Oberleder hochzuklettern. Das aber war noch Ekarnas kleinstes Problem. Viel schwerer wog, dass der Schuh in etwas versank, das auf den ersten Blick hätte Schlamm sein können, in Wirklichkeit aber etwas war, das sich Lexz gar nicht vorstellen wollte.
»Vorsicht, du versinkst da in ...«, sagte Torgon unnötigerweise.
»Ich weiß«, antwortete Ekarna gepresst. »Fragt sich nur, wie tief.«
Lexz hielt die Luft an, als Ekarna das Gewicht vorsichtig auf das linke Bein verlagerte. Irgendetwas blubberte neben ihr, dann zerplatzte etwas Grüngelbliches und besprenkelte das Hirschleder. Mehrere Ameisen wurden davon getroffen; sie verloren den Halt und rutschten ab. Ungläubig beobachtete Lexz, wie sich diese Ameisen wanden und ihre dünnen Beinchen zitterten, bevor sie in den Schleim fielen und mit kleinen schmatzenden Geräuschen von ihm aufgesogen wurden.
Das war aber erst der Anfang. All das weiche Zeug unter Ekarna begann zu blubbern und sich zu bewegen. Dicke Blasen wölbten sich, bis sie platzten, und Lexz stieg ein unangenehm scharfer Geruch in die Nase, der noch schlimmer war als der muffige süßliche Gestank, der aus der Grube heraufstieg.
»Ich glaube, du solltest da ganz schnell wieder rauskommen«, drängte Torgon.
Ekarna hörte jedoch nicht auf ihn. Sie beugte sich vor und streckte die Hand aus, als wolle sie nach etwas greifen. »Das hier könnte ein Flügel sein«, sagte sie. »Ein großer schwarzer Flügel.«
»Ja«, presste Torgon hervor. »Es könnte aber auch ein Umhang sein - so einer, wie ihn deine Angreifer getragen haben.«
»Glaub ich nicht.« Ungeachtet der Tatsache, dass ihr linker Fuß immer tiefer in dem blubbernden, sabbernden Schleim versank, beugte sich Ekarna so weit vor, dass sie das Gleichgewicht fast ganz verlor. »Ich will nur mal sehen, ob es etwas Lebendiges war - oder tatsächlich nur ein Stück toter Stoff.«
Oder vielleicht Sedak, dachte Lexz voller Panik. Oder Larkar!
»Komm jetzt da raus!« Torgon schrie fast. »Du versinkst gleich ganz. Und irgendwas stimmt mit diesem Zeug auch nicht. Das saugt dich auf!«
Und nicht nur das. Das hier war eine Falle, eine verfluchte Falle ...
Lexz sah sich nach allen Seiten um. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Die Gefahr war körperlich spürbar, sie zog sich wie ein Netz um sie zusammen. Und mehr noch. Lexz hatte plötzlich das Gefühl, Larkar und Sedak müsse etwas Schreckliches passiert sein. Was nun, wenn sie gleich ihnen in einen Hinterhalt geraten waren, man sie überfallen und in diese schreckliche Falle gedrängt hatte?
Auch Ekarna wirkte inzwischen mehr als nur ein wenig besorgt. Sie runzelte die Stirn und starrte auf die glitschige Stelle, in der sie ihren Fellschuh abgesetzt hatte. »Das gefällt mir nicht«, sagte sie, und wie es ihre Art war, wiederholte sie den Satz noch einmaclass="underline" »Das gefällt mir ganz und gar nicht!«
Sie versuchte den Fuß wieder herauszuziehen. Aber das war nicht mehr möglich. Ein Zittern und Beben ging durch den Schleim, als wäre er etwas durch und durch Lebendiges, und fast sah es so aus, als bilde sich allmählich etwas Festes in ihm - und wollte nach ihrem Knöchel greifen.
Lexz sprang aus dem Stand nach vorn, war schon bei Ekarna, und noch ehe er selbst richtig begriff, was er vorhatte, war er auch bereits in die Hocke gegangen, streckte die Arme unter ihren Achseln durch und verschränkte sie vor ihrer Brust. Er spürte ihre Brustwarzen, die so hart und steif waren wie bei einer Frau, die plötzlich mit kaltem Wasser übergossen wurde - oder die durch ihren Liebhaber erregt wurde. Dann spürte er sie auch wieder nicht, zu sehr war seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, einen möglichst festen Stand zu haben und seine ganze Kraft für den Augenblick aufzusparen, in dem er Ekarna herausziehen konnte.
Sie spannte sich auf ihre Raubkatzenart an, und Lexz spürte seinerseits, wie er von starken Armen gepackt wurde, als Torgon herangekommen war.
»Und ... jetzt!«, schrie Torgon.
Sie waren so eingespielt, dass ihre Kraft tatsächlich wie die eines einzigen Wesens mit sechs Armen und sechs Beinen explodierte. Ekarna kam auch ein Stück hoch, glitt dann aber wieder - wie von einem starken Mann in die andere Richtung gezogen - ein Stück zurück, und Lexz und Torgon verdoppelten ihre Anstrengungen, während sich Ekarna wand und bog und dann den linken Fuß mit einem Ruck hervorzog.
Ein fürchterliches Geräusch antwortete ihr, fast so etwas wie ein Aufschrei, eingeleitet von einem bedrohlich klingenden Blubbern, dem eine Explosion mit solcher Wucht folgte, als würde ein falsch unterfüttertes Schmiedefeuer hochgehen, und grünlichgelber Schleim spritzte in einer Riesenfontäne hinauf, begleitet von mehreren kleineren Eruptionen und Spritzern, die ihre ekelhafte Ladung in alle Richtungen verteilten.
Ekarna keuchte und schrie auf, bevor sie endlich freikam, und Lexz und Torgon torkelten mit ihr rückwärts, ein paar Schritte weit, ehe sie alle drei das Gleichgewicht verloren. Lexz stürzte auf Torgon, und Ekarna auf ihn, und Lexz hatte plötzlich einen spitzen Ellbogen im Gesicht, bevor sich die Raubkatze über ihm hinwegdrehte und mit einem keuchenden Laut neben ihm ins Gras fiel.
Lexz blieb erst einmal dort liegen, wo er war: auf dem dicken Torgon. Dass diese Lage nur für ihn selbst bequem war, begriff er aber erst, als das Fett unter ihm zu schwabbeln begann.
»Bei allen verfluchten Sumpfgeistern«, keuchte Torgon. »Fang bloß nicht an, es dir auf mir bequem zu machen!«
»Was ist denn?«
Torgon packte Lexz an der Schulter und zerrte an ihm herum. »Sieh zu, dass du von mir runterkommst«, stieß Torgon gepresst hervor, und Lexz tat es Ekarna nach, ließ sich auf die andere Seite gleiten und fiel auf den feuchten Boden, der aber trotzdem ausreichend Widerstand bot.