Als er dann wieder hochsah, flogen mehrere Schmeißfliegen von seinem Gesicht auf, und da erst bemerkte er das Brennen auf seinen Wangen, seinem Hals und seinen Händen, also überall dort, wo sein Körper nicht von der Kleidung geschützt war. Das musste das Zeug sein, das von der Grube hochgespritzt war, als sie Ekarna aus ihr herausgerissen hatten.
Lexz wollte aufstehen, aber es gelang ihm nicht. Ihm war schwindlig, und sein Atem ging nicht so gleichmäßig, wie er es eigentlich sollte, sondern hart und heftig. Was war bloß mit ihm los? Er fühlte sich benommen, fast wie berauscht.
»Reiß dich doch zusammen«, herrschte ihn Torgon an.
»Was?«, fragte Lexz.
»Reiß dich zusammen«, wiederholte die Stimme, und da erst begriff er, dass es gar nicht Torgon gewesen war, der ihn angefahren hatte, sondern Zakaan. Die Stimme in seinem Kopf, die immer da war, wenn er etwas falsch machte - und das auch dann, wenn der Schamane in Wirklichkeit eine Tagesreise entfernt im Lager zurückgeblieben war, so wie es auch jetzt der Fall war.
Lexz hatte immer einen leichten Druck auf den Schläfen verspürt, wenn der Schamane zu ihm gesprochen hatte, und sein Atem war niemals so selbstverständlich geflossen, wie es Zakaan von ihm verlangt hatte. Dabei hatte er immer das Gefühl gehabt, schon im Ansatz etwas falsch zu machen - so wie ein Jäger, der sich mit dem Wind an eine Beute anzuschleichen versucht, statt den Wind für sich arbeiten zu lassen.
Wenn Zakaan von ihm verlangte, sich auf etwas wirklich Wichtiges zu konzentrieren, waren seine Gedanken abgeschweift. Wenn er erwartete, dass Lexz ruhig war, hatte sein Herz besonders laut zu pochen begonnen, und wenn er ihm geraten hatte, seine ganze Kraft in seine Hände und Augen zu schicken, um in einem bevorstehenden Kampf gewappnet zu sein, dann hatte er nur mit Mühe ein Zittern unterdrücken können, das von seinem ganzen Körper Besitz ergreifen wollte.
Und wenn er von ihm verlangt hatte, alles aus reinem Herzen aufzunehmen, was ihm der Schamane beibrachte, dann hatte Lexz nie das Gefühl gehabt, seinen Ansprüchen wirklich gerecht zu werden.
Er war ein unwürdiger Schüler des großen Schamanen, und seinem Vater ein unwürdiger Sohn, nicht wert, jemals seine Nachfolge anzutreten. Dieses Wissen hatte er so tief in seinem Herzen vergraben, dass er meist selbst vergaß, wie nutzlos und unwürdig er eigentlich war.
Dazu allerdings war er jetzt nicht mehr imstande. Er hätte schneller, geschickter und beherrschter sein müssen als alle anderen jungen Männer seines Volkes. Doch dazu hätte er seinen Atem mit dem Atem der Götter verbinden müssen - und das vermochte er nicht. Nicht ein einziges Mal hatte er es wirklich geschafft. Immer, wenn er geglaubt hatte, sein Atem schwinge nun im gleichen Rhythmus wie der der Götter, war irgendetwas passiert, das ihn abgelenkt hatte. Meist war es etwas vollkommen Lächerliches und Nutzloses gewesen. Ein Krampf in seiner Wade zum Beispiel. Oder eine Mücke, die über sein Kinn spazierte und in seine Lippe biss, sodass er sie mit einer schnellen Bewegung tötete, statt sich zu beherrschen.
Das Schlimmste daran war, dass alle anderen scheinbar mühelos genau das schafften, was ihm noch nicht einmal mit größter Anstrengung gelang. Doch keiner wagte ihn darauf anzusprechen - bis auf Zakaan natürlich, der ihn öfter schalt als ihn die Läuse zwicken konnten.
Nur mit Mühe gelang es Lexz, sich von den sinnlosen Gedanken zu lösen und in die Wirklichkeit zurückzufinden.
Das war allerdings gar keine Erleichterung. Voller Unbehagen sah er Ekarna und Torgon zu, wie sie ein paar Schritte zurück in Richtung Grube gingen, und dann wieder stehen blieben, unschlüssig und in einer Haltung, die wenigstens Unsicherheit verriet, vielleicht sogar Angst. Was auch kein Wunder war. Das Blubbern und Glucksen wurde zunehmend lauter, und da war inzwischen noch etwas anderes hinzugekommen, eine Art schmatzendes Geräusch, das sich mit jedem Schritt veränderte, den die beiden auf die Grube zumachten, und in dem etwas ... Hämisches mitschwang. Die beiden blieben wie auf ein geheimes Kommando gleichzeitig stehen, sahen sich unschlüssig an, und dann drehte sich Torgon zu ihm um und warf ihm einen besorgten Blick zu.
»Weg da!«, hätte ihnen Lexz am liebsten zugerufen. »Diese Grube ist ein Ort voller Verderben. Begreift ihr das denn nicht?«
»Was ist?«, fragte Torgon, während er das Kunststück versuchte, gleichzeitig mit der linken Hand den rechten Handrücken und mit der rechten den linken Handrücken zu kratzen. Es gelang ihm sogar. Und sah so aus, als wäre er gerade dabei, den Verstand zu verlieren. »Kommst du?«
»Ich ... ich ...«, stammelte Lexz, und eine Woge der Übelkeit ergriff ihn so, dass er sich vorbeugte und in dem Versuch, sich nicht zu übergeben, keuchte.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Torgon. »Ist alles mit dir in Ordnung?«
Sein Gesicht schien zu verschwimmen und machte Zakaans alten, zerfurchten Gesichtszügen Platz, um sich dann wieder zu festigen. Lexz blinzelte. Er wusste auch nicht, was mit ihm los war. Es ging ihm nicht gut, das war klar, und sein Körper reagierte nicht so, wie er es sollte. Aber das war auch nichts Neues für ihn. Hunger und Durst, Verletzungen und Entbehrungen, all das hatte ihm schon oft so zugesetzt, dass er seine letzten Kräfte hatte freisetzen müssen, um nicht einfach aufzugeben und sich dem Schatten der Todesnacht anzuvertrauen, wie es so viele andere seines Volkes schon getan hatten.
Aber warum ließ ihn die Stimme des Schamanen jetzt nicht los?
Noch bevor er diesen Gedanken jedoch richtig fassen konnte, glaubte er die mahnende Stimme des Alten erneut zu hören: »Reiß dich zusammen, Lexz, Sohn des Ragok, Ahne derer, die das Geschlecht der Raker begründet haben.«
Lexz nickte. Er war ja bereit sich zusammenzureißen. Aber er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Zu der Sorge um Larkar und Sedak, die beiden Gefährten, die sie verloren hatten, weil er vor Wut immer tiefer in den dichten Wald hineingelaufen war, gesellte sich nun auch noch die Angst um Torgon und Ekarna.
Sie sollten doch nicht dahin gehen - nicht zu dieser schleimigen, ekelhaften Grube, die Ekarna gerade fast verschlungen hatte!
»Du weißt alles, was du wissen musst«, bedrängte ihn die alte knarzige Stimme des Schamanen. »Ich habe dir doch alles beigebracht. Und nun hilf deinen Gefährten - und dir selbst!«
Lexz stieß keuchend die Luft aus und richtete sich ruckhaft wieder auf. »Weg da! Dieses Zeug, das uns besudelt hat ...«, begann er, aber da fuhr der Dicke schon herum und starrte alarmiert auf die Grube, als hätte er dort etwas wahrgenommen, was nicht in Lexz’ Blickfeld war.
»Was ist?«, fragte Lexz besorgt, während er sich mit beiden Händen abstützte und - vergeblich - versuchte, wieder hochzukommen.
Ekarna hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bewegen. Ihr Gesicht richtete sich nach wie vor auf den blubbernden Tümpel, ihr Kinn war leicht angehoben, ihr ganzer Körper sprungbereit; und in diesem Augenblick hatte sie vielleicht mehr von einer Raubkatze an sich, die gerade Witterung aufgenommen hatte, als je zuvor.
»Großer Gott, was ist das bloß für ein Gestank?«, ächzte Torgon. »Und was ist ...?«
Er verstummte, sog zwischen den Zähnen scharf die Luft ein und verzog dann angewidert das Gesicht. »Das ist ja ekelhaft!«
»Nun«, sagte Ekarna, während sie zu Lexz’ Entsetzen einen weiteren Schritt vorwärts machte. »Das ist doch jetzt nichts Neues mehr. Aber ich will auch endlich wissen, was hier los ist!«
Lexz hatte schon Sorge, sie werde blindlings losstürzen, ein Verhalten, das er ihr durchaus zutraute. Doch offensichtlich siegte ihre Erfahrung über ihr Temperament, und aus einem ersten raschen Schritt wurde ein deutlich vorsichtigerer zweiter, bevor sie dann wieder lauernd stehen blieb und das scharf geschliffene Bronzeschwert mit der breiten Klinge zog.