Lexz wollte nichts weiter als aufstehen und seinen Gefährten hinterherlaufen. Aber sein Körper versagte ihm den Dienst. Er fühlte sich fast wie bei den Zeremonien, in denen Trinkgefäße mit berauschenden Substanzen herumgereicht werden: benommen und auf eine Weise außer Gefecht gesetzt, die vielleicht im Schutz der Gemeinschaft statthaft war, aber nicht, wenn man sich als Kundschafter in einer gefährlichen Situation wiederfand.
»Es ist völlig sinnlos, dagegen anzukämpfen«, sagte der Schamane.
Lexz blinzelte. Er sah Ekarna und Torgon, er spürte ihre Anspannung, er bemerkte auch die Waffen in ihren Händen, und er wusste, dass sie sich auf den Kampf vorbereiteten, den sie würden führen müssen. Aber da war auch noch etwas anderes.
Ein alter Mann, der ihm gegenübersaß und ihn über das prasselnde Feuer hinweg anstarrte, um das herum sie ihre Gespräche zu führen pflegten.
»Kampf bedeutet doch immer auch zu riskieren, dass man verliert«, fuhr der Schamane fort, und jetzt glaubte Lexz sogar die Hitze des Feuers wahrzunehmen und die Funken zu spüren, die von den Holzscheiten und dem Geäst aufstoben und in seine Wangen bissen.
Es waren aber gar keine Funken, es war das ekelhafte Zeug, mit dem er besudelt worden war: etwas, das er gleichzeitig wusste und auch wieder nicht. Und auch etwas, das im Augenblick keine Rolle spielte.
»Du musst sicherstellen, dass du diesen Kampf gewinnst«, fuhr der Schamane endlich fort. »Wenn du ihn verlierst, wirst nämlich nicht nur du sterben, sondern auch dein Volk.«
»Ja.«
Er richtete sich mit einem Ruck auf, da wurde ihm schwindlig, sein Herz klopfte bis zum Hals, und bunte Flecken tanzten vor seinen Augen.
»Lexz, Vorsicht!«, schrie Ekarna.
»Was?« Träge drehte er sich zu Ekarna um, und die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Ihm war schrecklich übel, und wahrscheinlich wäre er in das Schattenreich der Bewusstlosigkeit abgeglitten, wenn er nicht eben gerade Bewegungen zwischen den Bäumen wahrgenommen hätte, ein Huschen und Schleichen, als werde der Wald plötzlich lebendig - oder als stiegen nun die Sumpfgeister aus dem feuchten Boden auf, angelockt von ihrem Leid und der vorlauten Bemerkung, mit der Torgon sie herausgefordert hatte.
Lexz kam torkelnd hoch, seine Hand fuhr zur Waffe und seine Augen versuchten das geisterhafte Treiben einzufangen ...
Es schien endlos zu dauern, bis Abdurezak, Taru und Kaarg endlich verschwunden waren, um sie wieder allein ihrem Schicksal zu überlassen. Taru sollte ihr den Prozess machen? Das war doch lächerlich. Es gab wohl niemanden unter den Rakern, der sie mehr hasste als Dragosz’ Sohn. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was er ihr entgegenschleudern mochte, und wie er versuchen würde, alles in den Dreck zu ziehen, wie er ihr unterstellen würde, dass sie von Anfang an nichts anderes vorgehabt hatte als alle Raker zu vergiften ...
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff, dass der Totengesang der Klageweiber verebbt war. Das Geräusch der zirpenden Grillen und das Plätschern der Wellen hallte unangenehm laut in ihren Ohren wider. Es dauerte eine ganze Weile, bis Arri es wieder als das wahrnahm, was es in Wahrheit war: den ewigen und immerwährenden Gesang des Sees, der sie eingeladen hatte, in Frieden und Ruhe an ihm zu leben.
Immer wieder hatte sie ihren Liebsten betrachtet, jetzt aber riss sie den Blick von ihm los. Es war so schrecklich, ihn dort liegen zu sehen und zu glauben, er könne sich jederzeit wieder erheben. Und es war Unfug. Es war das Spiel der Wellen, die das Totenboot schaukelten, und das Licht der Morgensonne, das winzige Bewegungen vorgaukelte, wo gar keine waren.
Fast gewaltsam hob sie den Kopf und sah zum Ufer hinüber. Von der Stelle aus, an der Rar sie auf dem noch frisch riechenden Holz des lang geschwungenen Stegs, der zu dem neuen Pfahldorf gehörte, abgesetzt hatte, konnte sie nur einen kleinen Teil des Ufers einsehen. Sie stieß einen zittrigen Seufzer aus. Alles wirkte auf schreckliche Weise unverändert: die kleine, halb eingefallene Anlegestelle, die ihnen die alten Seebewohner hinterlassen hatten, zwei der von ihnen in aller Eile errichteten Hütten, die ihnen damals wie ein großer Luxus erschienen waren und jetzt nur noch schäbig wirkten, und dahinter der kleine Ausschnitt eines fruchtbaren Ackers, den sie erst vor Kurzem wieder urbar gemacht hatten.
Sie erinnerte sich noch genau daran, wie es gewesen war, als sie mit Dragosz und den Kundschaftern zum ersten Mal das Ufer abgeschritten hatte, immer darauf gefasst, dass gleich jemand käme, um seine Ansprüche auf den See und die alte Siedlung geltend zu machen. Sie hatte all dies hier als ein reines Wunder empfunden. Eine frische Brise war über das Wasser gestrichen, nicht zu warm und nicht zu kalt, Vögel hatten sich träge vom Wind tragen lassen, und surrende Libellen waren dagewesen, die wie die Mücken, Fliegen und andere Insekten vom reich gedeckten Tisch des Seeufers lebten.
Es war ein unbeschwerter, glücklicher Augenblick gewesen; und trotzdem hatte eine Art böse Vorahnung in ihr mitgeschwungen. Sie hatte gelernt, auf ihre Vorahnungen zu achten, und wahrscheinlich verdankte sie ihnen schon mehr als einmal ihr Leben. Aber diesmal suchte ihre Hand die von Dragosz, um sie fest zu drücken, und als sie ihn anlächelte, schalt sie sich innerlich eine Närrin, dass sie sich im Anblick eines großen Glücks schon wieder Sorgen zu machen anfing.
Das Wunder des Sees hatte sie beide überwältigt. Sie waren wie zwei kleine Kinder durch das ufernahe Wasser getobt und hatten die schwirrenden, summenden und brummenden Insekten und all die blühenden Pflanzen und grünen Triebe staunend wahrgenommen, die ihnen nach der Zeit der Entbehrung in ihrer Üppigkeit ebenso wie ein Wunder vorgekommen waren wie die vom Ufer aus ansteigenden brachliegenden Äcker, auf denen wildes Korn und andere Pflanzen trieben. Außer ihnen war keine Menschenseele zu sehen, und darin hatte vielleicht sogar das größte Wunder von allen gelegen. Was war nur geschehen, dass die ursprünglichen Seebewohner diese unfassbar schöne und reiche Gegend verlassen hatten?
Dieses Rätsel hatten sie weder an diesem noch am nächsten Tag lösen können, als sie erneut zum See aufgebrochen waren, um einen geeigneten Platz für ihre eigene Siedlung auszusuchen. Staunend hatten sie dort immer wieder neue kleinere und größere Wunder entdeckt, bis sie sich liebestrunken in eine schmale Bucht verirrt hatten ...
Schon in früheren Zeiten hatten Menschen um und mit dem See gelebt, natürlich, und überall hatten sie die Hinterlassenschaften aus verschiedenen Epochen gefunden: einen im Wasser vermoderten Einbaum, mehrere Feuerstellen, Steinwerkzeug, Pfeilspitzen und Lederriemen, verbogenen Kupferschmuck, angeschlagene Trichterbecher und allen möglichen Unrat, der im Schlick gelegen hatte. Dragosz hatten natürlich am meisten die morschen Pfähle im See beeindruckt, die verfaulenden Planken und auch die Überreste von Hütten auf dem Seegrund, die so aussahen, als hätte eine riesige Faust so lange auf sie eingeschlagen, bis sie unter der rohen Gewalt schlicht und einfach in sich zusammengebrochen waren.
Angriffe, Kämpfe, Tod und Verderben - alles dies war die Sprache, die Dragosz während der großen Wanderung gezwungen war zu sprechen. Und wenn er sich mit seinen Getreuen beriet, hatten sie manchmal das Gefühl, es ginge ihm in Wirklichkeit gar nicht darum, einen friedlichen Platz für sich und sein Volk zu finden, sondern er wolle vielmehr auf ewig Krieg führen.
»Wir werden ein Pfahldorf bauen«, hatte er entschieden. »Das lässt sich wesentlich besser gegen Angreifer verteidigen. Außerdem kann sich dann niemand unbemerkt an uns anschleichen.«
»Aber warum?«, hatte sie gefragt. »Warum sollte uns überhaupt jemand angreifen?«
Dragosz hatte sie nur ruhig angesehen, und Arri erinnerte sich noch heute daran, dass er dann ganz leise gesagt hatte: »Begreifst du denn nicht, wie unglaublich wertvoll der See und seine Umgebung ist? Hast du nicht gesehen, wie weit sich die Felder einst erstreckt haben, und das auf bestem Ackerboden? Und sind dir die Überreste der Koppeln ganz entgangen, auf denen man Vieh gehalten hat?«