»Natürlich habe ich all das auch gesehen«, hatte sie genauso leise zurückgeben. »Und deswegen habe ich geglaubt, dies hier sei Urutark - das Land eurer Prophezeiung.«
»Vielleicht ist es das ja auch«, antwortete Dragosz leise, »aber nur, wenn wir es dazu machen.«
Arri hatte damals nicht verstanden, warum er dabei nicht fröhlich oder zumindest hoffnungsvoll ausgesehen hatte. Sein Blick hatte sich aber ganz im Gegenteil getrübt, und sie hatte das Gefühl gehabt, er blicke weit zurück - vielleicht in das Land seiner Ahnen, die ihm aufgetragen hatten, sein Volk aus Hungersnot und Dürre in ein reiches Land zu führen, in das Land der alten Prophezeiungen, eben nach Urutark.
»Dieser See und seine Umgebung - es ist Urutark«, so hatte er gesagt. »Und deswegen macht es mir Angst.«
Arri war zusammengezuckt. Sie erinnerte sich noch ganz genau daran. Dragosz und Angst? Das passte so wenig zusammen wie Sommer und Winter. Und das war auch nicht das Einzige, was sie erschreckte. Es war sein Gesichtsausdruck, und dann seine Stimme. Er sah plötzlich viel älter aus, und seine Stimme hatte geklungen wie die von Abdurezak, wenn er mit großer Besorgnis über die Gefahren eines lang anhaltenden Winter sprach, und über seine Sorge, dass sie alle zusammen verhungern könnten, wenn kein Wunder geschah.
Dragosz war in diesem Augenblick nicht mehr Dragosz gewesen, da war sie sich auch nach all der Zeit noch ganz sicher. In diesem Augenblick hatte sie in das Gesicht eines alten Mannes geblickt, in das eines Weisen, eines Ältesten - in das eines der Stammväter von Dragosz, der seinem Geschlecht in früherer Zeit aufgetragen hatte, das Volk der Raker aus allen Gefahren heraus in ein neues Land zu führen.
»Dies hier war schon immer ein reiches Land«, fuhr Dragosz in der gleichen ungewohnten Art fort. »Und wer viel hat, dem wird auch viel geneidet. Ich weiß nicht, warum hier zurzeit niemand wohnt. Aber ich habe im Schlick Skelette liegen sehen - und nicht weit entfernt die Überreste eines Steinbeils. Etwas, das einmal ein Speer gewesen sein könnte. Du weißt, was das heißt.«
»Du meinst, um das Land hier wäre früher gekämpft worden?«, fragte Arri unsicher, »und dass man auch uns angreifen könnte?«
»Nein.« Dragosz’ Stimme klang ungewohnt ernst. »Ich meine es nicht nur. Ich weiß es ganz sicher.«
»Aber die Menschen hier ... ich meine, die Menschen, die hier früher gelebt haben. Sie sind doch freiwillig gegangen?«
»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.«
»Aber natürlich sind sie freiwillig gegangen«, beharrte Arri. »Sonst würden doch jetzt andere Menschen hier leben!«
Dragosz zuckte mit den Schultern. »Das ... kann ich mir auch anders vorstellen.«
»Aber wie?«
Dragosz war einen Schritt zurückgetreten. Er hatte auf den See hinausgestarrt, der sich im Licht der untergehenden Sonne blutrot gefärbt hatte. Wie kraftvoll er dabei ausgesehen hatte, so stark und männlich - und doch auf seine ganz eigene Weise verletzlich.
Schließlich hatte er sich aber wieder zu ihr umgedreht.
»Und was ist, wenn sie zurückkommen?«, flüsterte Dragosz. Er hatte Arri hart an den Armen gepackt. »Was ist, wenn die alten Siedler zurückkommen? Und vielleicht sogar in Begleitung meines Bruders?«
»Aber ... ich glaube nicht ...«
»Du glaubst nicht, dass Ragok kommen wird.« Dragosz nickte. »Aber das wird er. Verlass dich darauf. Und dann wird es zu dem Kampf zwischen uns beiden kommen, den wir vielleicht schon früher hätten austragen müssen.«
Dann hatte er etwas getan, das Arri noch mehr erschüttert hatte als alles andere zuvor: Er hatte sich zu ihr hinabgebeugt und sie so ungestüm in die Arme genommen und gedrückt, als wolle er sich für die ganze Ewigkeit von ihr verabschieden.
Kapitel 5
Ekarnas Warnung kam zwar rechtzeitig, aber Lexz war einfach nicht schnell genug. Bevor er sein Schwert aus der ledernen Rückenhalterung reißen konnte, stieß Torgon schon ein markerschütterndes Brüllen aus, drehte sich wild herum und rannte auf irgendjemanden zu, den Lexz bislang nicht einmal bemerkt hatte. Als Lexz den Kopf in die andere Richtung riss, erkannte er gleich mehrere vollkommen ... unmögliche Gestalten, die sich auf Ekarna stürzten.
Sumpfgeister? Wohl kaum. Es waren Menschen aus Fleisch und Blut, die sie angriffen. Und doch schien dieser Anblick so unglaublich, dass Lexz einen vollen Herzschlag lang einfach nur wie erstarrt zusah, bis er nach vorne sprang und noch in der unsicheren, torkelnden Bewegung seine Waffe endgültig hervorriss.
Ekarna wurde angegriffen, aber nicht von den Gestalten in den Kapuzen, den Dämonen, wie Torgon sie genannt hatte. Aus dem Wald brach eine Horde noch ganz anderer Angreifer hervor: Untersetzte Kerle mit wilden Bärten und noch wilderen Blicken. Die Männer trugen keine gewebte Kleidung, sondern steckten in grob zusammengenähten Bären- oder Wolfsfellen, die wie Überbleibsel aus einer anderen, längst vergangenen Welt aussahen. Dazu passte auch ihre Bewaffnung aus wuchtigen Holzkeulen und massiven Steinäxten, die sie drohend schwangen, während sie sich mit einem tierisch klingenden Gebrüll auf sie stürzten.
Höhlenmenschen.
Was, bei allen Göttern, taten denn Höhlenmenschen hier? Lexz war der Meinung gewesen, dass es sie schon seit vielen, vielen Generationen nicht mehr gab. Schließlich lebten sie in der Zeit von Webstühlen, Bronzewaffen und Langhäusern, und nicht in den harten alten Zeiten, als die Menschen den wilden Tieren noch die Höhlen streitig machen mussten, um sich vor den Naturgewalten zu schützen.
Die Zeit, die Lexz mit diesem nutzlosen Gedanken verschwendete, reichte Torgon, um mit seinem Hammer unter die Angreifer zu fahren. Und das keinen Augenblick zu früh, denn Ekarna war bereits getroffen und taumelte zurück. Bevor ihre Angreifer ihre Schwäche ausnutzen konnten, war Torgon unter ihnen. Mit ungestümer Wut warf er sich gleich zwei der ungepflegten Langbärte entgegen, ließ seinen Hammer auf den Arm des einen knallen, dass es ein fürchterlich dumpfes Geräusch gab und dem Kerl die Keule aus der Hand geprellt wurde, während er dem anderen aus der gleichen Drehung heraus den Ellbogen ins Gesicht stieß.
»Lasst Ekarna in Ruhe!«, brüllte er dabei. »Die steht unter meinem Schutz!«
Der Mann, den er mit dem Ellbogen erwischt hatte, spuckte zwar Blut, zeigte sich dadurch aber nicht sonderlich beeindruckt. Ohne Aufschrei, dafür aber mit der brutalen Kraft eines Bären, der durch einen Treffer bis aufs Äußerste gereizt war, sprang er vor - und packte mit beiden Händen Torgons Hammer. Lexz beobachtete ungläubig, wie er den Dicken an seinem eigenen Hammer so mühelos hin und her schwenkte, als hätte er einen Fuchs am Schwanz erwischt und würde ihn nun herumwirbeln, um ihn dann an einem Felsen zu zerschmettern.
»Nein!«, schrie Lexz.
Er war immer noch unsicher auf den Beinen, aber die Angst um seine beiden Gefährten verlieh ihm neue Kraft. Jetzt war er es, der wie ein leibhaftiger Dämon über sie kam. Sein aufwendig gefertigtes Bronzeschwert unterlief den kraftvollen, aber plumpen Keulenschlag eines Höhlenmenschen, der sich im letzten Augenblick dazwischenwerfen wollte, und erwischte den Kerl, der meinte, Torgon ungestraft herumschleudern zu dürfen. Seine Klinge ritzte die Schulter des Mannes auf und schrappte über seine Kehle, dann brüllte der Kerl auf und sprang zurück.
Wenn Lexz aber gedacht hatte, dass er jetzt aufgeben werde, dann sah er sich getäuscht. Der Bärtige hielt den Hammer weiterhin so fest umklammert, und das würde er wahrscheinlich selbst dann noch tun, wenn er schon tot war.
Torgons Augen quollen fast aus den Höhlen, als er sich mit beiden Füßen in den Boden stemmte, um seinen über alles geliebten Bronzehammer wieder an sich zu bringen. Er schien es einfach nicht fassen zu können, dass jemand stärker sein sollte als er selbst. Doch im Augenblick zumindest schien ihm der Angreifer überlegen zu sein. Er machte zwei, drei Schritte rückwärts und zog Torgon dabei wie ein kleines Kind mit sich.