Ihre Stimme wirkte jetzt genauso klar wie ihr Blick, und die Krämpfe blieben gerade einmal für eine Weile aus.
Isana sah, wie es in Abdurezaks Gesicht arbeitete. Offensichtlich hatte er es bislang vermieden, Amara zu sagen, wem der Klagegesang der alten Weiber gegolten hatte. Offensichtlich glaubte sie noch immer, Dragosz sei am Leben. Und so wie es aussah, wollte ihr Abdurezak auch nicht verraten, was mit Arris Mann geschehen war.
Isana konnte dies nur zu gut verstehen. Warum eine Sterbende mit quälenden Wahrheiten konfrontieren?
»Ich werde alles tun, was nötig ist, damit wir uns wieder vereinen«, sagte Abdurezak. »Ragok und Zakaan sind auf dem Weg hierher, das spüre ich. Und wenn sie kommen ...«
»Kein Krieg!«, jammerte die Alte. »Kein Kampf! Versprich mir das!«
Abdurezak zögerte kaum merklich, dann nickte er: »Ich werde es nicht zu einem Bruderkampf kommen lassen«, versprach er.
Die Stimme der Sterbenden sank zu etwas herab, das kaum mehr als ein Wimmern war. »Und was ist mit der Himmelsscheibe? Hat Arianrhod sie dir gegeben, wie sie es dir versprach?«
Die letzten Worte waren kaum mehr verständlich gewesen, aber Isana erschreckte sich so, dass sie das Bernsteinauge fallen ließ, das sie gerade in der Hand gehalten hatte.
Die Himmelsscheibe? Arri sollte sie Abdurezak versprochen haben? Aber wenn das so war ... hatte sie dann nicht einen schrecklichen Fehler begangen?
»Du phantasierst«, sagte Abdurezak begütigend. »Arianrhod hat mir gar nichts gegeben. Und das wollte sie auch nie.«
»Aber du und Dragosz ...«
Abdurezak schüttelte wieder und wieder den Kopf. »Das können wir alles besprechen, wenn du wieder gesund bist.«
»Nein«, stöhnte Amara. »Ich werde nicht mehr gesund.« Sie ließ sich auf ihr Lager zurücksinken. »Ich gehe zu den Urahnen. Aber ich will ihnen in Frieden gegenübertreten ... und nicht mit Furcht im Herzen.«
»Das wirst du«, Abdurezak wandte sich an Isana. »Geh schnell, und hol die Dillpaste!«
»Aber soll ich nicht lieber«, Isana hielt Abdurezak das Bernsteinauge hin, »ein beruhigendes Ritual ausführen? Ich glaube nämlich kaum, dass Dill ...«
»Tu, was man dir aufträgt«, sagte Abdurezak barsch. »Und nun geh, Isana!«
»Isana«, brachte Amara hervor, und Isana wollte sich ihr schon zuwenden. »Aber warum ist denn Isana hier?« Sie brach ab, als sie von einem Hustenkrampf geschüttelt wurde, und fuhr danach mühsam fort: »Warum ist denn Arianrhod nicht bei mir? Warum hat sie nur diese Kleine geschickt?«
Diese Kleine? Isana hätte beinahe laut aufgeschrien. Sie war doch mehr als nur diese Kleine!
Mit einem enttäuschten Laut wandte sie sich ab und eilte aus der Hütte.
Arri spürte, dass die Müdigkeit wie eine Feuchtigkeit in ihr hochkroch, die nach einem heftigen Regenguss Einzug in die Kleidung hielt. Trotzdem wäre sie nicht in der Lage gewesen, auch nur für einen Moment die Augen zu schließen. Wenn Dragosz noch leben würde ... Der Tag nach dem Fest hatte der erste Tag eines neuen Lebens sein sollen. Um das zu besiegeln, hatten sie sich heute beide mit Abdurezak treffen wollen, um endlich die Dinge zu besprechen, die sie viel zu lange schon vor sich hergeschoben hatten. Wahrscheinlich hätte Dragosz sie gerade jetzt am Arm berührt und gesagt: »Komm nun. Abdurezak wartet bestimmt schon auf uns.«
Am Abend vor dem Fest hatte ihr Dragosz gestanden, dass er Abdurezak von der Himmelsscheibe erzählt hatte. Arri hatte das zuerst als Vertrauensbruch betrachtet, aber Dragosz hatte ihr klargemacht, dass sie gar keine andere Chance hatten, als den Ältesten in das Geheimnis der Scheibe einzuweihen.
»Du brauchst dich nicht aufzuregen«, hatte Dragosz sie zu beruhigen versucht. »Er wusste ohnehin schon davon.«
»Von der Himmelsscheibe?« Arri hatte betroffen den Kopf geschüttelt. »Aber wie denn?«
»Von seinem Bruder«, hatte Dragosz erklärt. »Von Zakaan.« Als sie das nicht verstanden hatte, hatte er erklärt, dass er dem Schamanen alles erzählt hatte, was Arris Mutter einst Dragosz anvertraut hatte. Dabei waren Dinge gewesen, die selbst Arri nicht gewusst hatte.
Und jetzt war das alles so unwichtig. Die Himmelsscheibe, das Heiligtum, das sie mit den Monolithen hatten aufbauen wollen - war nichts weiter als feuchter Schnee, der vom Wind weggewirbelt wurde.
Ihr Blick wanderte wieder zu Dragosz, und dort blieb er haften. Sie fiel in einen Zustand zwischen Wachen und Schlaf, in denen Szenen aus ihrem gemeinsamen Leben mit ihrem Liebsten ineinander verschmolzen und sie mit sich trugen. Vielleicht war sie in diesem Augenblick dem Tod sogar näher als dem Leben, vielleicht war es auch nur ein Zustand, in den man kurz vor einem Zusammenbruch hineingleitet, bevor die sanften Schatten der Ohnmacht sie in einen gnädigen Schlaf mitnahmen.
Bis sie das Plätschern von Wasser hörte.
Dann ging alles so schnell, dass ihr gar keine Zeit zum Reagieren blieb.
Es war wohl weniger das Plätschern, das sie aus ihrem Dämmerzustand riss, obwohl es gleichermaßen kraftvoll und bedrohlich klang, wie ihr erst mit einiger Verspätung bewusst wurde. Vielmehr war es ein leise gezischter Befehl, und dann die Erschütterung der Holzplanken unter ihr, die sie aufrüttelten. Sie versuchte die Benommenheit wegzublinzeln und richtete sich aus ihrer so in sich versunkenen Haltung auf ...
Und sah, wie sich jemand mit nacktem Oberkörper aus dem See heraus hochzog und zu ihr kam.
Sie schreckte so fürchterlich zusammen, dass ein scharfer Schmerz augenblicklich durch ihren Nacken jagte. Es war Dragosz, der sich da zu ihr nach oben zog und sie dabei so unverschämt lebendig angrinste, als wäre jeder Gedanke an seinen Tod nur ein lächerlicher Spuk gewesen.
»Damit hast du wohl nicht gerechnet, du verdammte Drude, oder?«
Arris Herz machte einen gefährlichen Hüpfer, und bevor es wieder zu schlagen begann, jagten die unterschiedlichsten Gedanken durch ihren Kopf. Keiner von ihnen ergab aber irgendeinen Sinn.
Dragosz zog sich nun gänzlich hoch und schüttelte seinen Kopf. Unzählige Tropfen sprangen von seiner langen Mähne, und nicht wenige davon landeten auf Arris Gesicht.
Sie war fassungslos. Das war nicht Dragosz, natürlich nicht. Die Ähnlichkeit mit ihrem Liebsten verschwand endgültig, als sie in diese kalten, triumphierenden Augen blickte.
So hatte Dragosz sie nie angesehen. Aber Taru.
»Was ...«, sie musste sich räuspern, »was willst du?«
Tarus Grinsen wurde noch breiter, und da erkannte Arri, dass Dragosz’ Sohn nicht allein gekommen war. Ein zweiter junger Mann zog sich zu ihr hoch. Er hatte beeindruckende Muskeln und brutale Gesichtszüge: eine Mischung, die Arri noch nie gefallen hatte.
»Rar«, hauchte sie.
Der Schmiedegehilfe nickte, grinste aber nicht. Er starrte sie nur finster an, und in seinem Blick lag ein Versprechen, von dessen Inhalt Arri gar nichts wissen wollte.
»Ganz allein hier?« Taru hatte sich vollständig aus dem Wasser gezogen, und jetzt richtete er sich auf und starrte auf sie hinab. »Das ist aber gar nicht klug von dir.«
»Ganz genau.« Rar nickte, als er sich neben Taru aufbaute. »Gar nicht klug.«
Arri war noch immer nicht ganz in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Doch immerhin begriff sie, dass die beiden nicht im Auftrag des Ältestenrates gekommen waren, um sie zu holen. Sie hatten etwas ganz anderes vor.
»Taru«, sagte sie. »Eines musst du mir glauben: Ich habe deinem Vater nichts getan!«
»Ach so.« Taru stieß Rar in die Seite. »Hast du das gehört? Sie hat meinem Vater nichts getan.«
»Aha.« Rar trat einen Schritt vor, Arri aber drehte sich so weit wie möglich von dem groben Schmiedegehilfen weg. »Und warum liegt er da tot in dem schwarzen Einbaum?«