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Arri spannte sich an und wartete darauf, dass Rar noch ein kleines Stück näher kam. Aber leider tat er ihr nicht den Gefallen.

»Jaaaa«, sagte Taru gedehnt. Er strich sich mit einer langsamen Geste die nassen Haare zurück, auch das war eine von Dragosz’ typischen Gesten. »Ich weiß nicht ... Es ist ja nicht erst seit gestern. Die Drude vergiftet schon seit ewigen Zeiten das Essen meines Vaters.«

»Das ist nicht wahr!«, wehrte sich Arri. »Ich habe deinem Vater nie etwas getan.«

»Na gut, wenn das so ist.« Taru ließ den Fuß vorschnellen und trat ihr so hart in die Seite, dass ihr die Luft aus den Lungen wich. »Ich hab doch selbst gesehen, wie du Pilze gesammelt hast«, seine Stimme klang plötzlich ganz schrill, »und anschließend hast du sie klein geschabt und ins Essen meines Vaters gestreut! Damit hast du seine Sinne verwirrt und ihn gefügig gemacht, bis er gar nicht mehr er selbst war!«

»Wie kannst du es nur wagen, so etwas zu behaupten«, erwiderte Arri. »Ich habe deinen Vater geliebt!« Und das tue ich noch immer, fügte sie in Gedanken hinzu.

Aber das musste Taru nicht wissen.

»Du warst doch schon früher eine Giftmischerin«, sagte Taru scharf. »Und du hast nur auf den passenden Zeitpunkt für den entscheidenden Schlag gewartet: der kam mit unserem Fest, mit dem wir unser neues, besseres Leben feiern wollten!«

Das war eine solch unglaubliche Unterstellung, dass Arri spürte, wie ihr vor lauter Empörung das Blut in den Kopf schoss. »Ich bin Heilerin, falls du das vergessen haben solltest«, stieß sie hervor. »Und alles, was ich getan habe, war, deinem Vater zu helfen, wenn er Schmerzen hatte!«

»Mein Vater und Schmerzen?«, fauchte Taru. »Wovon sprichst du, Drude? Mein Vater hatte niemals Schmerzen!«

Er holte erneut aus, um ihr einen zweiten Fußtritt zu versetzen. Aber diesmal war sie darauf vorbereitet. Im allerletzten Augenblick rutschte sie ein Stück zur Seite und ließ ihre zusammengebundenen Hände mit der ganzen Kraft ihrer Empörung auf seine Zehen niedersausen.

Taru stieß einen überraschten Laut aus und hüpfte zurück. »Na warte«, seine Stimme zitterte vor Zorn. »Das sollst du mir büßen!«

Er riss den Bronzedolch hervor, der gestern noch in Dragosz’ Gürtel gesteckt hatte, wie sich Arri voller Schmerz erinnerte. Pure Mordlust blitzte in seinen Augen.

»Erstech mich doch«, sagte Arri ganz leise und mit einem so drohenden Unterton, dass Taru mitten in der Bewegung erstarrte. »Mach mich doch hier gleich an Ort und Stelle nieder. Vielleicht versteht Abdurezak das ja. Vielleicht findet er es auch gut. Aber wenn nicht ...«

Taru zögerte. Er wusste ganz genau, was Arri andeutete: Wenn er sie hier niederstach, würde man ihr nicht mehr den Prozess machen können - aber ihm würde man ihn machen können, weil ein Mord etwas war, das die Raker unter keinen Umständen duldeten.

Rar hingegen begriff wieder einmal gar nichts. »Nun mach doch schon«, sagte er ungeduldig. »Stich die Drude ab. Das will sie doch sogar selbst. Dann haben wir es endlich hinter uns!«

Taru zögerte. »Nein«, er rammte den Dolch so unbeherrscht in den Gürtel zurück, dass sich die Klinge in sein Gewand schnitt. »Ich denke ja gar nicht daran.« Er gab Rar einen Wink. »Hilf ihr auf die Füße. Wir verschwinden.«

Rar wirkte zuerst verwirrt, doch dann nickte er.

»Wag es nicht, mich anzufassen«, fauchte ihm Arri entgegen. »Geh zurück in die Schmiede und lass dich hier niemals wieder blicken.«

»Ach was«, knurrte Rar. »Du hast mir gar nichts zu sagen ...«

»Und der Ältestenrat auch nicht?«, gab Arri zurück. Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung, in der die Ältesten die ganze Nacht über in einer Hütte beratschlagt hatten, was nun zu tun sei - und in der Abdurezak und Kaarg auch wieder verschwunden waren, nachdem sie ihr den kleinen Besuch abgestattet hatten. »Abdurezak wird sicherlich gleich noch einmal nach mir sehen wollen. Und was meinst du, was passiert, wenn er dich hier erwischt?«

»Gar nichts wird passieren«, sagte Taru böse. »Schließlich hat Abdurezak selbst gesagt, dass ich dir den Prozess machen soll.«

»Aber doch nicht so, wie du das jetzt vorhast«, widersprach Arri. »Das hast du ja auch sicher nicht mit dem Ältestenrat abgesprochen, oder?« Bevor Taru etwas dazu sagen konnte, fügte Arri hinzu: »Aber das kannst du ja gleich selber mit ihnen klären.« Mit dem Kopf machte sie eine Bewegung in Richtung Ufer. »Wenn ich mich nicht täusche, kommt er da schon.«

Taru fuhr herum und starrte ans Ufer zurück. »Irgendjemand scheint da tatsächlich zu kommen«, flüsterte er.

»Die Drude hat wohl wieder einen ihrer Zauber ausgesprochen«, sagte Rar ärgerlich. »Aber das lass ich ihr nicht durchgehen.« Mit zwei Schritten war er bei Arri und bückte sich herunter, um sie zu packen und zu sich hochzuziehen.

Arri hatte genau das erwartet. In ihrem Herzen kämpften Trauer und Empörung miteinander, und fast hätte sie alles mit sich geschehen lassen. Aber dann siegte ihr angeborener Kampfeswille.

Ihr Kopf zuckte mit der Geschwindigkeit einer angreifenden Schlange vor, und ihre Zähne gruben sich in Rars Hand. Der kräftige Junge schrie auf und hieb mit der anderen Hand nach Arris Kopf. Aber sie hatte nicht vor, sich schlagen zu lassen. Gerade noch rechtzeitig ließ sie wieder los und bog den Kopf zum zweiten Mal schlangengleich, jetzt aber in genau die andere Richtung.

Rar stolperte an ihr vorbei. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre ins Wasser gestürzt. Keuchend hielt er sich am Geländer fest und fuhr dann wieder zu Arri herum. »Verfluchte Drude«, zischte er. »Das wirst du mir büßen!«

Lexz betrachtete zum wiederholten Mal seine Hände. Sie zitterten nur ganz leicht: wie Farnwedel, die sich in einem lauen Sommerwind wiegen. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn er dem Zittern hätte Einhalt gebieten können.

Aber das vermochte er nicht.

Hier, auf der kleinen sonnendurchfluteten Lichtung, zur der sie hingestolpert waren, bevor sie sich ins knöchelhohe Gras hatten fallen lassen, war das leise Blubbern und Gluckern aus der Grube kaum noch zu hören. Aber es schien noch da zu sein. Irgendetwas war dort in der Grube, etwas, das eigentlich tot sein sollte, und doch auf unvorstellbare Weise lebendig schien: etwas, das die ganze Zeit über auf ein leichtsinniges Opfer gewartet hatte, voller Gier und Lust zu töten, was auch immer so unvorsichtig sein würde, ihm zu nahe zu kommen. Lexz wusste, dass er sich darum kümmern musste, dass er nachsehen musste, was in dieser Grube vor sich ging, gleichgültig wie schrecklich es auch sein mochte.

Aber er konnte es nicht. Er war wie gelähmt.

Seine Gedanken drehten sich um die zwei Überfälle, die sie nur mit Mühe und Not überstanden hatten, und die ihn nun mehr erschütterten, als er zunächst hatte wahrhaben wollen. Vielleicht lag es an dem, was Ekarna getan hatte, vielleicht aber auch an der Grube, an der beide Kämpfe stattgefunden hatten.

Zwei Kämpfe? Waren es denn wirklich zwei Kämpfe gewesen? Lexz konnte es gar nicht fassen. Missgestaltete Kreaturen in Umhängen, die mit Stangen auf sie eingedroschen hatten, und dann Höhlenmenschen, die mit einer Wucht auf sie losgegangen waren, als hätten sie eine ganze Mammutherde vor sich gehabt.

»Alles in Ordnung?«, fragte jemand.

Er sah auf. Zuerst glaubte er, es sei Ekarna, die da vor ihm stand, aber dann erkannte er seinen Irrtum. Das Mädchen, das, fast gänzlich von Zweigen und Blättern verborgen, am Rand der Baumgruppe stand, die gerade noch Torgon Schutz geboten hatte, schien viel kleiner als Ekarna zu sein, und fast noch zierlicher. Es hatte leicht schräg stehende Augen, in denen eine bange Frage zu lesen war, und sein Mund war leicht geöffnet, so wie bei jemandem, der gerade etwas Schreckliches gesehen hat.

Lexz wusste, dass er die Kleine kannte, aber kam nicht darauf, woher. Vielleicht aus einem Traum ... oder aus den alten Geschichten über Todessyren, die einem Krieger in der Gestalt zierlicher Mädchen erschienen, bevor sie im Kampf erschlagen wurden ...