»Alles in Ordnung?«, wiederholte das Mädchen.
Seine Stimme klang wie die eines Menschen, und doch auch wieder nicht; sie war ein wenig tiefer und gleichzeitig schriller - vollkommen unmöglich, dass sie zu einem menschlichen Wesen gehörte.
»Was ist ...?«, stammelte er, und ein eiskalter Schauer rann ihm über den Rücken.
Das Mädchen nickte, als hätte es damit seine Frage beantwortet. Dann drehte es sich um und war schon kurz darauf zwischen den Bäumen verschwunden.
Vielleicht war es ja tatsächlich eine Traumerscheinung ...
Oder doch eine Todessyre ...
Zakaan taumelte hoch. Die Geschichten über die Todessyre waren uralt, gingen in die Zeit zurück, als die Menschen noch in Höhlen lebten und Eis und Schnee selbst im Sommer kaum zurückgingen. Man erzählte sich, dass damals noch andere Menschen hier gelebt hatten, die zu keinem ihrer Völker gehört hatten: bärtige, grobe Gesellen, die unglaublich stark gewesen sein mussten und viel besser geeignet gewesen waren als sie, der Kälte und dem Schnee zu trotzen. Aber dann war etwas geschehen, das die Höhlenjäger wie eine dunkle Wolke immer weiter zurückgedrängt hatte, bis sie keinen Lebensraum mehr gefunden hatten.
Die Todessyre hatte sie berührt.
Zakaan kannte diese Geschichten weit besser als jeder andere seines Volkes, denn sie wurden ausschließlich von Schamane zu Schamane weitergereicht. Es war auch gut so, dass kein anderer sie erfuhr. Denn sie waren unverständlich und grausam. Und sie endeten damit, dass eine ganze Menschenrasse untergegangen war.
Partuk, einer der Männer, die ihm bei der Zeremonie beigestanden hatten, packte ihn am Arm und stützte ihn.
»Was ist mit dir?«, flüsterte er.
»Lexz ...« Der Schamane schüttelte den Kopf. »Lexz ist in Gefahr.«
Der alte Krieger beobachtete ihn aufmerksam. Zakaan streifte seine Hand ab und wandte sich mit unsicheren Bewegungen ab. Er konnte jetzt keinen Menschen ertragen, schon gar nicht diesen Partuk mit seinem Augenleiden, das ihn ständig blinzeln ließ - und das umso schlimmer wurde, desto aufgeregter er war.
Und jetzt schien er ziemlich aufgeregt zu sein.
Als Partuk wieder etwas sagen wollte, hob Zakaan die Hand. »Ich muss nachdenken.«
Er ging ein paar Schritte, nur fort von dem Platz, von dem aus er in die andere Welt eingetaucht war.
Lexz war in Gefahr, das traf zu. Aber das war noch nicht alles. Es waren dunkle Wolken, die über ihrer aller Schicksal aufzogen. Dass ihm die Todessyre erschienen war, mochte auch mit seinem bevorstehenden Tod zu tun haben. Er ahnte schon seit Langem, dass seine Zeit gekommen war. Es war nichts, was ihn wirklich beunruhigen konnte.
Da gab es ganz andere Sachen.
Mit einer wackligen Bewegung ließ er sich nieder, mitten unter zwei Bäumen, die ihn mit ihrem dichten, im Wind raschelnden Blätterdach schützten. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte, und nur allmählich gelang es ihm, seinen Atem halbwegs zu beruhigen und seine Gedanken auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig schien.
Es hieß, dass die bärtigen Höhlenjäger nicht durch äußere Gewalt vernichtet worden seien. Damals gab es wenig Streit zwischen den verschiedenen Menschengruppen, dazu waren sie zahlenmäßig einfach zu klein und zu sehr mit ihrem eigenen Überleben in einer feindlichen Umgebung beschäftigt. Eher war es etwas gewesen, das sie von innen heraus zerfressen hatte. Über Generationen hatten sie sich tapfer gegen diese so wenig greifbare Gefahr gewehrt, von der Zakaan allenfalls eine ganz undeutliche Vorstellung hatte, und am Ende doch verloren.
»Die Vergangenheit«, murmelte Zakaan. »Die Vergangenheit und die Zukunft ... Alles ist noch viel inniger miteinander verwoben, als ich gedacht hatte.«
»Ja«, sagte Partuk. »In den alten Geschichten steckt mehr Weisheit, als man meinen sollte.«
Der Schamane sah überrascht hoch. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ihm Partuk gefolgt war. Es war schon bedenklich, dass er sich nicht mehr auf seine Sinne verlassen konnte.
»Das ist zwar nicht gerade das, was ich gemeint hatte«, antwortete er. »Aber du hast recht. In den alten Geschichten steckt sehr viel Weisheit.«
Partuk ließ sich neben ihm nieder, und unter dem Gewicht seines Körpers knackten dünne Zweige weg. Zakaan musste daran denken, dass brechende Knochen ein ganz ähnliches Geräusch machten. Wie kam er bloß auf solche Gedanken?
»Und warum bekümmert dich das so, Schamane?«
Ja, was bekümmerte ihn eigentlich so? Partuk hatte eine merkwürdige Art, Fragen zu stellen. Aber meist legte er mit ihnen eine Wunde frei, die noch nicht verschorft war.
»Hat es nur mit Lexz zu tun?«, fragte Partuk weiter, »oder mit uns allen?«
Zakaan gab ein unbestimmt brummendes Geräusch von sich, starrte vor sich auf den gesunden braunschwarzen Boden, über den die Käfer krabbelten und Ameisen mit ihrer Beute entlangzogen, so wie sie es schon immer getan hatten und auch noch tun würden, wenn ihrer aller Gebeine längst vermodert waren. Fast gewaltsam riss er sich von diesem Anblick los und wandte sich wieder Partuk zu: »Nun, was meinst du?«
»Ich?« Partuk wirkte überrascht, aber dann nickte der alte Krieger. »Du fragst mich wohl, weil meine Augen weit mehr gesehen haben als die der meisten von uns.«
Es waren nicht gerade die Augen, auf die der Schamane zu sprechen kommen wollte - ganz gewiss nicht. Wann immer es nur ging, mied er Partuks Blick. Das ständige Augenzucken stimmte ihn ganz unruhig.
Diesen Gedanken behielt er aber besser für sich. Stattdessen sagte er laut: »Ich frage dich, weil du die Geschichte unseres Volkes besser kennst als jeder andere - mich einmal ausgenommen. Du hast Ragok und Dragosz zusammen aufwachsen sehen und weißt, dass sie einst unzertrennlich waren ...«
»Allerdings. Sie waren wie zwei Wölfe, die gemeinsam jagen und jede Beute, die einer von ihnen reißt, teilen.« Partuk nickte grimmig. »So lebensfroh wie Dragosz und so finster wie Ragok - das war etwas Einmaliges. Warum nur haben die Götter das, was doch eigentlich unzertrennlich war, getrennt?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Zakaan eher zu sich selbst als zu dem alten Krieger, »dass dies die Götter gewesen sind.«
»Surkija war seit Menschengedenken Ragok versprochen«, sagte Partuk heftig. Er richtete sich ein Stück auf und massierte seine Finger, bis es dabei knackte und knirschte, als würde er sie gleich zerbrechen. »Warum hat Dragosz das nur nicht hingenommen? Warum hat er sich nicht eine andere Frau gesucht - vielleicht sogar von einem anderen Stamm oder einem anderen Volk, die Tochter eines Herrschers oder eines Schmieds? Warum musste er sich ausgerechnet an unserer Heilerin vergreifen?«
»Wenn es jemandem zu wohl ist, so vergiftet er seine eigene Wasserstelle«, murmelte der Schamane.
»Du meinst, Dragosz war es zu wohl?« Partuk schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich war dabei, als er und Ragok von dem schrecklichen Jagdunfall hörte, bei dem ihr Vater ums Leben kam. Da war kein Platz für Übermut, als man Kubilay mit den Füßen voran ins Dorf getragen hatte.«
»Ja, ich erinnere mich ...«
Kubilay, der Vater dieses ungleichen Brüderpaars Dragosz und Ragok, das war ein harter Mann gewesen. Zakaan kannte ihn seit frühester Jugend, und sooft er auch mit ihm aneinandergeraten war, so sehr hatte er sich ihm doch auch verbunden gefühlt. Ihn mit zerschmettertem Schädel zu sehen, es war so schrecklich gewesen. Zakaan war an seinen alten Weggefährten herangetreten und hatte die Wärme gespürt, die der gerade erst Verstorbene nach wie vor ausstrahlte. Die rechte Faust Kubilays hielt den Schaft eines abgebrochenen Speers so fest umklammert, als wolle er ihn ins Reich der Toten mitnehmen.
»Und ich erinnere mich an den feierlichen Schwur von Dragosz und Ragok, als hätten sie ihn erst gestern gesprochen«, sagte Partuk bedrückt. »Sie haben sich geschworen, gemeinsam über ihr Volk zu wachen und das Erbe ihres Vaters zum Wohle aller gemeinsam auszuüben.«