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Taru hatte ihn hier im Totenschiff aufgebahrt, auf dem Wasser, noch bevor das Licht des Mondes mit den Wellen zu spielen begonnen hatte. Doch dann waren dunkle Wolken aufgezogen und hatten den frischen Wind mit sich gebracht, der Arris Haar zerzauste und sie frösteln ließ. Es hatte nicht länger gedauert, als einen Holzeimer an einem Seil in einen Brunnen hinabzulassen und Wasser zu schöpfen; aber lang genug, um all dies wieder durcheinanderzubringen, was Taru so sorgfältig in Ordnung zu bringen versucht hatte.

Dabei war nichts in Ordnung. Überhaupt nichts.

Dragosz war tot, sein halbwüchsiger Sohn von Hass zerfressen.

Und das Dorf von einer fürchterlichen Katastrophe getroffen, und dies war ausgerechnet während des ausgelassenen Fests geschehen, mit dem sie die geglückte Neugründung der Siedlung am See hatten feiern wollen, den friedlichen Neubeginn nach einer zermürbend harten Zeit der Kämpfe und Hungersnächte. Eine heitere, ausgelassene Stimmung war das gewesen. Der Geruch von Gebratenem war verlockend durchs Pfahldorf gezogen, die Kinder hatten fröhlich herumgetobt, die harten Züge der älteren Männer und Frauen, in die sich die Strapazen der langen Wanderung eingegraben hatten, hatten schon angefangen sich zu entspannen. Vom Ufer her war Musik über den See gezogen, das eintönige Schlagen auf fellbespannten Trommeln, der lang gezogene, manchmal fröhlich überkippende Gesang, später untermalt von hellen Flötenklängen, dem Geklapper von Knochenratschen und Schildkrötenrasseln. Und dann hatte es natürlich auch das Stampfen der Tänzer gegeben, die das Uferfeuer umtanzten.

Krüge waren herumgereicht worden, die großen für das einfache Volk, während Dragosz und dem Rat die kleinen kostbaren Krüge gereicht wurden, die die Raker aus ihrer weit entfernten Heimat mitgebracht hatten. Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, der Rhythmus der Musik wurde lauter, fordernder, die Luft vibrierte vor Anspannung und Aufregung, Gelächter und Geschnatter vermischten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm, der die Männer anspornte, alles aus ihren Instrumenten herauszuholen und die ausgelassene Menge doch noch zu übertönen. Überall waren fröhliche Gesichter zu sehen gewesen, am Ufer, wo von drei großen Feuerstellen Qualm und der Duft gebratenen Fleisches aufstiegen, auf den Stegen des Pfahldorfs und in den Hütten, wo gesungen und getanzt wurde, und selbst in der Zeremonienhütte, wo die Ältesten zusammenhockten und Rauchkraut inhalierten.

Arri hatte zum ersten Mal das Gefühl gehabt, wirklich angekommen zu sein. Die Erinnerung an ihre Mutter und das Dorf der Flussleute war genauso verblasst wie die Gewissheit, als letzter Abkömmling einer untergegangen Kultur etwas ganz Besonderes zu sein. Dragosz und die ausgelassenen Menschen um sie herum waren ihr so nah erschienen, als hätte sie schon immer zu ihnen gehört. Es waren nur flüchtige Berührungen gewesen, die sie mit ihrem Liebsten hatte austauschen können. Aber auch sein Lächeln hatte zum ersten Mal seit langer Zeit befreit gewirkt, und dann hatte er sie gepackt und in den Kreis der Tanzenden gestoßen, die das Hauptfeuer umtanzten. Er selbst hatte nicht mitgetanzt, aber am Rand gestanden und beobachtet, wie sie ihren Rhythmus dem der anderen Tänzer anpasste, während ein gelöstes Lächeln seine Züge umspielt hatte.

Bis die Kinder gekommen waren.

Sie hatten die Krüge in ihren Händen gehalten. Ihre Augen glänzten, ihre Bewegungen wirkten angespannt, denn man hatte ihnen eingeschärft, nur keinen Schluck der leicht alkoholischen Flüssigkeit zu verschütten, die von Arri und ihren Helfern mit allerlei Kräutern und geschabten Pilzen verfeinert worden war. Dragosz hatte sich zu ihnen umgedreht und ihnen mit einer befehlenden Handbewegung Einhalt geboten.

»Wo wollt ihr hin?«, hatte er gefragt.

»Zum Kreis der Tänzer«, hatte ein hochgewachsener Junge mit fester Stimme geantwortet. »Wir wollen ihnen von dem Trunk bringen, der den Göttern zu Ehren gebraut wurde.«

Dragosz hatte ernsthaft genickt und angeordnet, dass jeder einen Schluck des Opfertranks zu sich nehmen sollte. Damit hatte das Unglück seinen Lauf genommen. Die Kinder reichten die Krüge herum, die Musik setzte aus und die Tanzenden kamen zur Ruhe. Es wurde genippt, getrunken, und Dragosz bekam den schönsten der kleinen Krüge gereicht, die sie aus dem Land seiner Vorväter mitgebracht hatten. Auch er setzte ihn an die Lippen und trank einen kräftigen Schluck von diesem ganz besonderen Wasser, und dabei sah er zu ihr hinüber, mit einem Lächeln in den Augen ... das sich veränderte, nur allzu bald, und einem Erschrecken Platz machte, das sie sogleich entsetzte. Und dann brach auch schon ein Mann neben Arri zusammen, und ein anderer taumelte stöhnend davon ...

Jetzt bäumte sich Arri in ihren Fesseln auf, als könne sie damit die Erinnerung abschütteln. Wie hat das alles nur passieren können?, hämmerte es in ihrem Kopf. Wie hat das Gift in die Zeremonienkrüge gelangen können? Wer hat das Wasser geschöpft, wer hat den sorgfältig zubereiteten Opfertrank vergiftet, wer hat Dragosz getötet und die anderen, die sich gleich ihm in Krämpfen gewunden hatten?

Wer hatte ihr Leben zerstört?

Das Entsetzen über den schrecklichen Verlust war so groß, dass es den Hass und die Wut überdeckte, die tief in ihrer Seele auf eine Gelegenheit zum Ausbruch lauerten. Doch das würde sich sehr schnell ändern. Die Zeit würde kommen, in der all ihre Empörung, all ihr Schmerz explodierte und jeden anderen Gedanken hinwegwischte, bis auf den einen: die zu strafen, die ihr und den anderen dies angetan hatten.

Sie würde jeden töten, der in den feigen Mord verstrickt war. Die Zeit der Rache würde kommen.

Arris Blick wanderte an dem schweren Bronzeschwert entlang, das man ihrem Mann für die Reise in die Ewigkeit mitgegeben hatte. Es war eine aufwendig gefertigte Waffe mit einer zweischneidigen Klinge, schwerer und ausladender als die wenigen anderen Schwerter, die die Raker in ihrem Besitz hatten. Der Griff war mit den gezackten Ornamenten des Kriegsgottes Wurgar verziert, der Knauf ein offener Kreis: das Zeichen für die Kraft, die Wurgar der Hand des Kämpfers verleihen konnte, wenn er ihm wohlgesonnen war.

Es war eine hervorragende Waffe, und doch nichts gegen das von ihrer Mutter geerbte Schwert, das Arri sorgfältig in einer nahegelegenen Höhle verborgen hielt, damit man es ihr nicht stahl. Aber darauf kam es nicht an. Dragosz’ Schwert wäre die richtige Waffe, um ihren Liebsten zu rächen.

Der Gedanke an Rache zerstob jedoch, als Arris Blick auf die Fingerknöchel der Hand fiel, mit denen der Tote die schwere Waffe umklammerte. Sie traten so weiß und spitz hervor, als würden sie den Griff im Todeskampf fest umklammern, um sich auf einen letzten Kampf vorzubereiten. Wenn es doch nur so wäre! Wenn sich Dragosz noch einmal erheben würde, hier und jetzt, und nicht erst im Reich der Toten! Wenn er sie mit einem Lächeln begrüßte, oder auch mit einem grimmigen Blick, wenn er sich hochzöge, um der verdammten Todesbarke einen Tritt zu verpassen! Wenn er auf die Planken spränge, um ihre Fesseln mit einem Schwerthieb zu zertrennen, damit sie dann gemeinsam ans Ufer stürmen konnten, denjenigen entgegen, die ihren Herrscher hatten tot sehen wollen ...

Es war eine so kindische und lächerliche Vorstellung, dass es ihr fast das Herz zerriss. Dragosz war tot, und er würde niemals wieder etwas umklammern, weder ihren Arm, um sie an sich heranzuziehen, noch den Griff einer Waffe. Und schon gar nicht würde er aufspringen, um gemeinsam mit ihr seine Feinde zu bekämpfen.

Erst ganz langsam begriff sie, was überhaupt geschehen war. Sie hatte geglaubt, dass gestern der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen sei, schlimmer noch als der Tag, an dem ihre Mutter blutüberströmt in ihren Armen das Leben ausgehaucht hatte. Die Zeremonie des Opfertrunks, die Tonkrüge, die sie hatten herumgehen lassen, auf dass sich jeder mit dem Wasser die Lippen benetzte. Die Mächtigsten unter ihnen hatten einen kräftigen Schluck aus den geweihten Krügen der Ygdra zu nehmen ... Die Männer und Frauen, plötzlich der Schaum vor dem Mund, und kurz darauf hatten sie sich in Krämpfen gewunden... Das Chaos, die Schreie, das Stöhnen; Dragosz, der auf sie zugetaumelt war, von einem Grauen erfüllt, das sie noch nie zuvor in seinen Augen gesehen hatte ...