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»Und jetzt müssen wir hier weg«, fuhr Taru fort. »Und das sofort.«

Rar nickte und bückte sich hinab, um Arri wie ein Reisigbündel aufzunehmen. Taru fiel ihm in den Arm. »Wir können nicht über den direkten Weg zurück. Wir müssen über den See.«

Jetzt wirkte Rar endgültig verwirrt. »Aber die Drude kann doch nicht mit ihren Fesseln schwimmen!«

»Ja, das ist wahr.« Taru wirkte gehetzt. Vom Ufer erscholl lautes Gerede herüber, es konnte also nicht mehr lange dauern, bis man sie hier bemerkte. »Ab ins Wasser«, befahl Taru. »Sie dürfen uns hier nicht sehen.«

Manchmal wirkte Rar zwar ausgesprochen begriffsstutzig, diesmal aber reagierte er sofort. Mit einer schnellen Bewegung ließ er sich ins Wasser gleiten. »Wir brauchen ein Boot für die Drude ...«

»Denk nicht mal daran«, sagte Taru scharf. »Das Totenboot meines Vaters ist unantastbar. Wir werden es auf keinen Fall anrühren ...«

Sein Blick wanderte hinaus bis zu dem verzweigten Geflecht der Stege, und dann schien er einen Entschluss getroffen zu haben. »Da hinten, das ist ein Boot. Los jetzt. Komm wieder raus aus dem Wasser, und dann nichts wie weg hier!«

Kapitel 6

Einsamkeit und Zurückgezogenheit waren eine Notwendigkeit für jeden Schamanen, wenn er sich der Welt der Geister und Götter öffnen wollte. Zakaan hielt nicht viel von den Geisterbeschwörungen, wie sie bei anderen Völkern praktiziert wurden, und auch nichts von Tier- oder gar Menschenopfern, von denen so manch ein Reisender erzählt hatte. Wenn es notwendig war, dann las er die Zukunft aus den Eingeweiden eines frisch getöteten Vogels, oder hantierte mit den Tinkturen und Pülverchen, die seine Vorväter ersonnen hatten, um die Aufnahmefähigkeit des Geistes herzustellen - oder auch, um die Leistungsfähigkeit zu steigern.

Im Großen und Ganzen hielt sich der Schamane aber lieber an sich selbst. Die Versenkung war seiner Meinung nach die beste Methode, um mit den Toten und den Lebendigen in Kontakt zu treten. Dabei nutzte er alles, was eine Versenkung unterstützen konnte. Steinkreise waren die besten Orte, um in sich zu gehen, aber Plätze an Quellen oder unter Bäumen, die einem wohlgesonnen schienen, konnten sich ebenso gut dafür eignen. Und die Bäume, unter denen er Schutz gesucht hatte, waren ihm durchaus wohlgesonnen. Er spürte ihre Freundlichkeit, ihre Sanftheit und gleichzeitig die Beharrlichkeit ihres Alters, das bereits viele Menschenleben währte.

Nachdem Partuks Schritte verklungen waren, schloss Zakaan die Augen und konzentrierte sich ganz auf seine Atmung. Es war ihm immer leicht gefallen, den Atem nach und nach in sich einströmen zu lassen und ihm die nötige Zeit zu geben, sich bis in den letzten Winkel seines Körpers auszubreiten, bevor er ihn langsam wieder ausstieß. Diesmal fühlte sich jedoch alles anders an. Schon das Einatmen bereitete ihm Mühe. Ihm schien, sein Körper wolle den Odem der Götter gar nicht erst annehmen.

Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass der Widerstand gar nicht von außen kam, sondern von innen, also aus ihm selbst. Es war, als stemme sich in ihm etwas dagegen, das frei fließen zu lassen, was ihn dem Willen der Götter näher bringen konnte.

Es waren Bilder. In einem anderen Zusammenhang hatte er sie immer wieder gesehen, aber niemals zuvor so unruhig und zerrissen: Szenen aus dem früheren Leben seiner Stammväter. Sie hockten um ein Feuer herum, beratschlagten sich, sie waren mit Speeren und Steinäxten unterwegs auf der Jagd, sie standen im Steinkreis und sprachen feierlich die Worte, mit denen sie einen der ihren aus dem Leben entließen, auf dass er im Reich der Toten ein ruhiges und reiches Leben führen möge ...

Männer und Frauen in gewebten Kleidern, in Gewändern, die mit Nadeln oder einem Dorn zusammengehalten wurden, manche mit Bronzearmbändern oder Ketten aus Bernstein oder mit fein gearbeitetem Kupferblech geschmückt ...

Die Bilder liefen übereinander, vermischten sich, sein Atem wurde noch unruhiger als zuvor, und dann sah er wieder, wie Männer und Frauen einen Toten auf seinem letzten Weg verabschiedeten, hörte den Totengesang der Klageweiber, das langsame Schlagen der Trommeln, und dann lag da der Tote, aufgebahrt ...

Jetzt war alles ganz anders. Zakaan konnte es spüren, schmecken und riechen. Es war so eindringlich wie selten zuvor. Er tauchte in eine ganz andere Welt ein, besuchte auf der Reise durch die Welt der Stammväter einen anderen Ort, eine andere Zeit, etwas, das er bislang noch nicht einmal entfernt gestreift hatte.

Kalt.

Es war das Gefühl von Kälte, das ihn als Erstes zu überwältigen drohte. Sie kam gleichermaßen von außen wie von innen. Sie war allumfassend, drohte ihn zu überwältigen, und es bedurfte seiner ganzen Anstrengung, diese Empfindung zurückzudrängen und sich anderen Eindrücken zu öffnen.

Die Luft war klar. Umso stärker roch der leicht süßliche Geruch des Todes, den er wahrnahm, und der nach einer Mischung aus Kräutern und anderen Substanzen, die er nicht einordnen konnte, duftete. Er glaubte den leicht bitteren Geschmack von Schierlingskraut und Tollkirsche auf seiner Zunge wahrzunehmen.

Seine Umgebung wirkte zunächst verschwommen, und erst langsam schälten sich Konturen aus dem Grauweiß heraus. Er hatte eine Begräbnisszene vor sich, schwebte so auf sie zu, als sei sein Geist vollkommen losgelöst von seinem Körper. Ganz langsam nur begriff er, dass man hier einen Mann bestattete - dies aber auf eine Art, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Die Hände des Toten lagen gefaltet auf seinem Bauch, dabei umklammerten die gelblich fahlen Finger seiner rechten Hand eine Steinaxt. Der Atem des Schamanen stockte ganz, als er die Steinplatten gewahrte, mit denen das passgenaue Grab des Toten in die Erde eingelassen worden war. Ihm wurde bewusst, dass er keine Kleidung trug, die auf einem Webstuhl entstanden war, sondern in ein schwarzes, grob zusammengenähtes, an einigen Stellen abgeschabtes Wolfsfell gekleidet war, das seine mächtigen Oberarme trotz der Kälte frei ließ.

Offensichtlich war es ein Eiszeitjäger. Ein Mann, der in einer Höhle gelebt hatte, nicht in einem Haus, ein Mann, der sich ganz der Jagd verschrieben hatte, nicht dem Ackerbau.

Zakaan war weit zurückgereist diesmal, und das gefiel ihm nicht. Er spürte, dass er besser nicht hier sein sollte. Der Tote mochte ein Vorfahre von ihm sein. Seine Wirklichkeit wurde jedoch von einer ganz anderen Umgebung geprägt als seine eigene, also von Umständen, die der Schamane nicht einmal ansatzweise verstehen konnte.

Mit ruhigen Atemzügen und einer Rückbesinnung auf seine eigene Wirklichkeit versuchte sich Zakaan gegen das zu wehren, was er hier wahrnahm. Aber das wollte ihm nicht gelingen. Die Trance hatte ihn nicht nur wesentlich weiter zurückgeführt als jemals zuvor, sie gab ihm auch das Gefühl, einen Ort erreicht zu haben, an dem der Tod allgegenwärtig schien.

Nicht nur einen beliebigen Ort, sondern einen Steinkreis. Die ungewöhnlich großen Monolithen waren von einer dünnen weißen Schicht bedeckt, was ihnen etwas ungewohnt Lichtes und Leichtes gab, so als wären sie weniger massiv, als sie es eigentlich sein sollten. Aber das war noch nicht alles: Der Schatten eines riesigen Vogels fiel auf das Grab, und als Zakaan erschrocken in seine Richtung blickte, glaubte er in die kalten Augen einer riesigen Krähe zu blicken, die anklagend auf ihn hinabstarrte.

Schaudernd riss sich Zakaan von diesem Anblick los und starrte nach vorn.

Die Männer und Frauen, die das frisch angelegte Grab umstanden, trugen Rentierfellmäntel und Biberkappen. Sie sahen müde und erschöpft aus, und man sah ihnen die Strapazen an, in einer Umgebung überleben zu müssen, die eigentlich nicht für Menschen gemacht war.

Der Kreis schließt sich, dachte der Schamane. Diese Menschen hier hatten fast den Kampf gegen die Kälte und das Eis verloren, so wie er selbst und Ragok denjenigen gegen die Hitze und das Feuer. Vielleicht war er an diesen Ort zurückgekehrt, weil es damals eine Zeit gewesen war, zu der alles hätte enden können, wenn sich mutige Männer und Frauen nicht gegen ihr Schicksal aufgelehnt hätten.