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Genauso wie jetzt.

Einige der Menschen konnten sich kaum auf den Beinen halten, so erschöpft waren sie. Ihre Kleidung mochte zwar zweckmäßig und warm sein, aber sie machte auch einen erbärmlichen Eindruck: abgewetzt, an vielen Stellen kahl gescheuert. Als Schmuck trugen einige von ihnen allenfalls eine Kette aus Rentierzähnen oder mühsam bearbeiteten Knochenperlen, jedoch nichts aus Kupfer oder Bronze. Und trotzdem hatten sie sich die Mühe gemacht, in dem frostharten Boden ein Grab auszuheben und es mit Steinen auszukleiden. Das zeugte von großem Respekt gegenüber dem Toten.

Vielleicht war es ein Mann wie Ragok gewesen. Jemand, der es verstand, auch unter den widrigsten Umständen immer noch einen Weg zu finden, auf dem es weiterging.

Das war vielleicht auch eine Erklärung für die ungute Stimmung unter den Eiszeitjägern, die hier zusammengekommen waren, um ihrem verstorbenen Stammesfürsten die letzte Ehre zu erweisen: Sie wussten nicht, wie es jetzt weitergehen sollte.

Zakaan versuchte die Eindrücke beiseitezuschieben, die ihn schon zu überwältigen drohten, um in seinen ganz eigenen Atemrhythmus zurückzufinden. Seitdem er ein kleines Kind gewesen war, war ihm das immer gelungen. Auch diesmal würde er es schaffen, dessen war er sich ganz sicher. Und trotzdem ...

Einer der Eiszeitjäger drehte sich zu ihm um - und schien ihn zu sehen. Zakaan erschrak. So etwas hatte es noch nie zuvor gegeben.

Der Eiszeitjäger runzelte die buschigen Augenbrauen. Sein Blick begegnete dem Zakaans, und in seinen dunklen, fast schwarzen Augen funkelte etwas, das dem Schamanen gar nicht gefiel.

»Was tust du hier?«, fragte der Mann.

Zwar sprach er nicht seine Sprache, aber die Worte waren dem Schamanen verständlich. Langsam, ganz langsam nur kroch ein so eiskalter Hauch seinen Rücken hinauf, dass er jetzt nicht nur Kälte empfand, sondern sein Körper auch anfing zu zittern. Die Atemluft, die er ausstieß, bildete eisgraue Dunstwolken, die sich kaum auflösen wollten.

Was geschah hier?

Der Mann machte einen Schritt auf ihn zu. Zakaan hörte ganz deutlich das Gemurmel der Männer und Frauen um ihn herum, er hörte auch, wie der kalte Wind über das Land pfiff und sich in die Kleidung und in jede ungeschützte Körperstelle biss - und spürte sie dann selbst, die kalte Hand der Götter, die nichts und niemanden verschonte. Schon oft hatte der Schamane in Trance etwas vor sich gesehen, und zwar so klar, als wäre es tatsächlich vorhanden. Und schon oft war er in eine frühere Epoche eingetaucht, hatte seinen Ahnen bei alltäglichen Arbeiten zugesehen, oder Zeremonien beigewohnt. Doch niemals war er mehr als ein heimlicher Beobachter gewesen, und niemals hatte er wirklich sicher sein können, ob das, was er zu sehen glaubte, in der Vergangenheit auch wirklich passiert war.

Das aber schien ihm jetzt ganz anders.

»Was du hier tust, habe ich gefragt ...«, rief der Eiszeitjäger. »Und warum sitzt du unter dem Lebensbaum?«

Zakaan schluckte hart. Er war so verwirrt wie selten zuvor in seinem Leben. »Wo bin ich?«, fragte er.

Der Eiszeitjäger blieb stehen, und Zakaan sah den Frost, der sich mit kleinen Eisklümpchen in seinem dunklen Bart festgebissen hatte. Aber er sah auch, wie die Hand des Mannes zu seinem Gürtel fuhr - der aus Rentierleder gefertigt war, auf eine grobe und doch sehr sorgfältige Art. Im Gürtel steckte eine Axt und daneben ein Steinmesser, wie es Zakaan schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte: aus einer Feuersteinknolle geschlagen, glatt geschliffen und poliert - und damit eine starke Waffe, die einem modernen Messer aus Bronze in der Gefährlichkeit kaum nachstand.

Allmählich wurde Zakaan unbehaglich zumute. Stand dieser Mann da wirklich vor ihm, oder war er nur ein Geschöpf der Trance? War es vielleicht jemand, der hier zufällig vorbeigekommen war und ihn nun zurückführte, in die Gegenwart, ohne dass Zakaan sich ganz aus seiner eiszeitlichen Versenkung reißen konnte?

Vermutlich wäre es ganz einfach herauszufinden: Er brauchte nur aufzustehen und den Mann zu berühren.

Sein Gegenüber schien ganz ähnliche Gedanken zu haben. Statt eine seiner Waffen zu ziehen, trat er noch einen Schritt näher an Zakaan heran und berührte ihn an der Schulter. Der Schamane spürte die Berührung ganz genauso, wie man eine Berührung spüren sollte.

Aber nicht eine Berührung in Trance.

»Die Todessyre«, murmelte Zakaan.

Anders konnte er es sich nicht erklären. Durch die Begegnung mit der Todessyre war irgendetwas geschehen, das alles durcheinandergebracht hatte.

»Was?«, murmelte der Eiszeitjäger. »Was machst du hier, alter Mann? Und was trägst du für eine lächerliche Kleidung?«

Zakaan sah an sich herunter. Ja. Seine Kleidung war gewebt, der Rock ebenso wie das Oberteil, und obwohl es nicht mehr lange dauern konnte, bevor das alles auseinanderfiel, sah man ihm doch die gute Qualität noch an. Allerdings war es keine winterfeste Kleidung, sie schien allenfalls geeignet, kühle Herbstnächte ohne Unterkühlung zu überstehen. Was den Schamanen aber noch mehr erschreckte, war die dünne Schneedecke, auf der er hockte.

Hier ging etwas ganz und gar Unvorstellbares vor sich.

»Ich habe noch nie zuvor einen so alten Menschen wie dich gesehen«, stellte der Eiszeitjäger fest. »Und auch noch nie einen, der so merkwürdig gekleidet gewesen wäre. Von welchem Stamm bist du? Etwa von den Leuten, die hinter den Bergen leben?«

Zakaan schüttelte den Kopf. »Ich bin von keinem Stamm aus deiner ... Umgebung. Ich bin ...« Er zögerte, das Wort auszusprechen. Er wusste nicht, wie dieser Jäger darauf reagieren würde, wenn er ihm sagte, dass er ein Schamane war.

Das Murmeln im Hintergrund veränderte sich, wurde erst leiser und schwoll dann wieder an. Das war auch so eine Merkwürdigkeit. Nur dieser eine Mann hatte ihn entdeckt, und nur er sprach mit ihm - ohne dass irgendjemand sonst davon Kenntnis nahm.

»Die Stammväter haben mich gerufen«, sagte der Schamane.

Das Misstrauen in den Augen des Eiszeitjägers verschwand nicht vollständig. Aber es machte etwas anderem Platz: einer Art Respekt.

»Die Stammväter haben uns alle gerufen«, sagte er, »um Uaert bei seinem Übertritt ins Reich der Götter angemessen zu begleiten.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und Zakaan begriff mit einiger Verspätung, dass er ihn gerade anlächelte. »Gut, dass du dem Ruf deiner Ahnen gefolgt bist, alter Mann. Dann ist noch nicht alles verloren.«

Noch nicht alles verloren? Zakaan war sich dessen nicht so sicher. Tief in seinem Herzen wusste er, dass sie gerade an einem ähnlichen Punkt standen wie jemand, der einen steilen Hang hinaufkletterte. Ein einziger Fehltritt konnte den Tod bedeuten.

»Ich sehe, dass du das Richtige denkst«, fuhr der Mann fort.

Das Richtige ... denken? Aber wie konnte dieser Eiszeitjäger denn wissen, was wer dachte?

»Wer bist du?«, fragte Zakaan.

Der Mann wischte sich ein paar Eiskristalle aus dem Bart. »Ich bin der Schamane unseres Stammes. Derjenige, der in den Geist der Vergangenheit eintaucht, in das Land unserer Urväter.«

»Der Schamane ...« Zakaan schüttelte den Kopf. Der Mann sah gar nicht wie ein Schamane aus. Aber das spielte keine Rolle. Es war die innere Einstellung, die einen Schamanen ausmachte, nicht sein Aussehen.

Was ihn aber viel mehr erschreckte, war die Vorstellung, dass dieser Mann von seinen Urvätern sprach. Er selbst verkörperte für Zakaan eine Vergangenheit, die für ihn unvorstellbar weit zurücklag. Dass es aber auch für diesen Schamanen wieder eine Vergangenheit geben konnte, die von ihm aus ebenfalls so weit zurücklag - das ließ ihn schwindeln.