»Unser Schicksal wird sich in den nächsten Tagen entscheiden«, fuhr der eiszeitliche Schamane fort. »Hier gibt es kein Wild mehr, das wir jagen könnten, und keine Wurzeln, die wir ausgraben könnten, und überhaupt nichts, was wir sammeln könnten. Wir müssen unser Land verlassen, wenn wir wollen, dass unsere Kinder eine Zukunft haben.«
Das also war es ... Zakaan spürte den Sog der Zeit, den er schon seit Langem wahrgenommen hatte. Ihnen ging es ganz ähnlich. Sie hatten zwar nach einer Weile harter Entbehrungen eine Gegend erreicht, die ihnen üppig Nahrung bot. Aber das änderte nichts daran, dass er spürte, wie sich alles um sie herum zusammenzog, wie sich die Entwicklungen überschlügen und schreckliche Dinge nach oben drückten ...
Die möglicherweise ihren Ursprung in einer wesentlich früheren Epoche hatten. Vielleicht in der, in die ihn die Trance dieses Mal geführt hatte.
»Wir müssen in das Land unserer Vorväter zurück«, murmelte er.
Der eiszeitliche Schamane nickte. »Ich weiß. Ihr müsst hierher. Aber ihr seid dreigeteilt.«
»Dreigeteilt?«, gab Zakaan verwundert zurück.
Der andere nickte abermals. »Dann aber hob Wurgar seinen Hammer und ließ ihn auf das Volk niedersausen. Und das Volk zerbrach in drei Teile. Ein Teil nur blieb im alten Land, ein anderer Teil zog nach Norden, einer nach Osten.«
Er sprach das so ruhig aus, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Und - das war es ja auch. Der Eiszeit-Schamane sprach nicht von den Rakern, die sich zurzeit in zwei Teile geteilt hatten, einer angeführt von Ragok, der andere von Dragosz. Er sprach von einer anderen, von einer wesentlich tiefgreifenderen Trennung, die viel, viel früher stattgefunden haben musste.
»Unsere alten Geschichten«, sagte Zakaan selbstvergessen. »Sie erzählen, dass wir einst aus dem Westen kamen, aus dem Land der Stammväter. Und dass wir dorthin auch wieder zurück müssen.«
»Das müsst ihr«, antwortete der Eiszeit-Schamane, »wenn ihr nicht in alle Winde zerstreut werden wollt, bis ihr untergeht.«
»Und die nächsten Tage ...«, begann Zakaan.
»Die nächsten Tage werden darüber entscheiden, ob ihr fortbesteht oder nicht«, sagte der eiszeitliche Schamane. »Gewaltige Prüfungen kommen auf euch zu, und Schreckliches wird euch widerfahren.«
Zakaan nickte. Es war nichts Neues für ihn, und wenn er auch nicht wusste, welcher Art die Prüfungen sein würden, denen sie sich stellen mussten, so hatte er es doch Ragok, Lexz und allen anderen immer wieder eingehämmert.
»Aber wie finden wir das Land unserer Väter?«, fragte er.
»Das weißt du doch schon längst«, sagte der Mann aus der fernen Vergangenheit. »Und dein Bruder weiß noch mehr darüber. Geh zu ihm und löse gemeinsam mit ihm das Rätsel eures Ursprungs.«
»Ja, das werde ich tun«, flüsterte Zakaan. »Aber was hat das mit der Himmelsscheibe zu tun? Warum deuten alle Zeichen darauf hin, dass wir sie finden und richtig deuten müssen, um nach Urutark zu kommen?«
»Genau das müsst ihr herausfinden«, sagte der Eiszeit-Schamane. »Und nun geh und suche deinen Bruder!«
Zakaan erschauerte. Es waren nicht so sehr die Worte des Eiszeitjägers, die ihn berührten, als vielmehr die feierliche Art, in der er sie aussprach.
Ihm war kalt, und er wusste, dass er es in der bitteren Kälte nicht mehr lange aushalten würde. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Sein Blick wanderte nach oben, zur Krone der mächtigen Eiche, unter der er saß: dem Lebensbaum, wie ihn der Jäger genannt hatte.
»Bruder«, sagte er. »Abdurezak. Wo bist du? Ich vermisse dich so!«
Der Lebensbaum war nicht kahl, er trug ein dichtes Blätterdach, auf dem eine pulvrige, aber dichte Schneeschicht lag. Es war also nicht Winter, sondern allenfalls Herbst. Und trotzdem war es so schrecklich kalt ...
Dennoch durchzuckte den Schamanen ein heißer Schrecken, als er das sah, was hinter dem Baum aufragte: ein riesiger, grauschwarzer Stein, von Menschenhand behauen und vollkommen schneefrei. Er ragte aufrecht in den Himmel.
Und er war nicht der einzige, der dies tat, wie er mit einem raschen Blick in die Runde feststellte. Sie waren von Monolithen geradezu umzingelt, von so riesigen Steinen, dass sie wie die Zähne eines unvorstellbar großen Riesen aussahen.
Er befand sich in einem riesigen Steinkreis.
»Urutark«, murmelte er. »Das muss Urutark sein - die Heimat meiner Väter!«
»Kannst du erkennen, wer da am Steg steht?«, fragte Taru vom Wasser aus. Er war hinabgestiegen, um den Einbaum loszubinden, der hier in einer abgelegenen Ecke so einladend angebunden war, als warte er nur auf sie. Arri hoffte nur, dass er ein Loch hatte und absaufen würde, sobald sich die beiden Dummköpfe dort hineingesetzt hatten. Dann würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als ihren lächerlichen Fluchtplan aufzugeben.
Das Schlimme war allerdings, dass sie zur Untätigkeit verurteilt war. Der Schmiedegehilfe hatte sie unsanft an der Hüttenwand abgesetzt, und sie hatte eine ganze Weile gebraucht, bevor sie auch nur eine halbwegs bequeme Position hatte einnehmen können, bei der sie nicht das Gefühl hatte, sich selbst die Rippen in die Lungen zu bohren. Jetzt bekam sie endlich wieder einigermaßen Luft. Aber als sie den Mund geöffnet hatte, um nach Hilfe zu schreien, hatte Taru sie nur angesehen, ganz knapp mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: »Tu das besser nicht. Mit durchschnittener Kehle schreit es sich schlecht.«
Da hatte er leider recht. Mit ihrem eigenen Leben hatte Arri längst abgeschlossen. Aber nicht mit dem ihres Sohnes.
Taru hatte einen Fehler gemacht, als er so abfällig über Kyrill gesprochen hatte. Einen sehr großen Fehler. Wenn Arri ein Messer in die Hand bekam, dann sollte sich Taru besser um seine eigene Kehle Sorgen machen.
Mit durchschnittener Kehle würde es ihm schwerfallen, Dragosz’ Nachfolge anzutreten.
Im Augenblick war es aber geradezu lächerlich, sich in solche Phantasien hineinzusteigern. Alles, was sie tun konnte, war, auf eine Gelegenheit zur Flucht zu warten. Und sich in der Zwischenzeit so weit zurückzunehmen, dass ihr der Einfaltspinsel Rar nicht noch jeden einzelnen Zahn lockerschlug - oder sogar Schlimmeres.
Rar drückte sich so eng an ihr vorbei, dass sein Gewand sie berührte. Ganz, ganz kurz war sie versucht, vorzuschnellen und ihm ins Bein zu beißen. Aber das würde ihre Chance auf eine Flucht wohl kaum verbessern.
Ein Stück hinter der lehmverputzten Hütte, in deren Schatten er sich gedrückt hatte, steckte Rar die Nase hervor ... und zuckte sofort wieder zurück.
»Bei Moron«, stöhnte er auf. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
»Was darf denn nicht wahr sein?«, entfuhr es Arri. »Hast du dir aus lauter Blödheit die Zunge abgebissen, oder warum antwortest du nicht«, setzte sie nach, als Rar lediglich ein unterdrücktes Stöhnen hervorbrachte.
Sie verfluchte sich dafür, dass sie nicht einfach den Mund hatte halten können, und erwartete, dafür einen Fußtritt zu kassieren. Aber Rar reagierte auf ihre vorlaute Bemerkung überhaupt nicht.
»Was macht der denn bloß hier?«, murmelte er nach einer Weile. »Ich dachte, der verhandelt mit den Leuten von Goseg!«
Taru ließ von dem Einbaum ab und sah auf. »Wer verhandelt mit den Leuten von Goseg?«
»Na, Kenan, Isanas Vater«, antwortete Rar unglücklich. »Er will Erz kaufen - und alles andere, was nötig ist, um die Schmiede wieder in Betrieb zu nehmen.«
»Kenan?«, wunderte sich Taru. Er richtete sich auf, darauf bedacht, den Sichtschutz der Hütte nicht zu verlassen. »Bist du sicher, dass da Kenan aufgetaucht ist? Und dass es nicht zufällig Kaarg ist, oder Abdurezak oder sonst jemand vom Ältestenrat?«
Unglücklich schüttelte Rar den Kopf. »Nein. Leider bin ich mir sicher.«
Arri sah zu dem Schmiedegehilfen hoch, und sie konnte sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen, als sie sah, wie die schiere Panik in Rars Augen aufflackerte. Kenan war ein hochgeachteter Mann, der zu gelegentlichen Wutanfällen neigte, bei denen dann die Schmiedehämmer tief flogen.