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Als hätte sie die Frage laut ausgesprochen, sagte Taru plötzlich: »Wir müssen Arri irgendwo verstecken ... Und dann gehst du zur Schmiede ... und siehst zu, dass du da alles in Ordnung bringst.«

»Ja, das mache ich ganz bestimmt«, antwortete Rar. »Ich weiß bloß nicht ... wann ich da wieder wegkomme.«

Taru antwortete nicht darauf, sondern schien sich ganz auf das gewiss anstrengende Ziehen des Bootes zu konzentrieren. Arri fand es ausgesprochen gut, dass sich die beiden dabei zunehmend verausgabten.

Schließlich erreichten sie die zerklüftete Flussmündung, die von vielen kleinen Bächen und Verzweigungen zerfurcht war. Die alten Seesiedler hatten hier einmal Stege angelegt, von denen jedoch zum Teil nicht mehr als ein paar verrottete Pfosten übrig geblieben waren, die anklagend aus dem Wasser ragten. Arri ließ ihren Blick über das Ufer schweifen. Sie war überrascht, hier bereits frische Spuren einer Bearbeitung erkennen zu können. Dragosz’ Leute hatten offensichtlich nicht viel Zeit verstreichen lassen, um dieses Gebiet wieder in Besitz zu nehmen. Wahrscheinlich ließen sich hier besonders leicht Fische mit Lanzen und Knochenharpunen stechen oder auf andere Art fangen.

»Das Ganze kann natürlich nur gelingen, wenn man uns nicht gesehen hat«, sagte Taru, während er das Boot an Land zog.

»Aber die Hunde«, erinnerte ihn Rar, der dem Heck des Einbaums einen letzten kräftigen Schubs gab, der es ins feuchte Gras gleiten ließ, »sie haben doch die Hunde auf uns gehetzt! Also müssen sie uns doch auch gesehen haben!«

Taru schüttelte den Kopf, trat ans Boot, griff Arri am Arm und zerrte sie hoch und über den Rand des Bootes hinweg. Arri versuchte, die Bewegung zu unterstützen - was mit gefesselten Armen und Beinen alles andere als einfach war. Und doch wäre sie fast über die Bordwand gestürzt und in den Schlick gefallen.

»Warum schlagen wir ihr nicht einfach den Schädel ein«, fragte Rar, »und drücken sie dann in den Schlamm?«

»Weil sie dann irgendwann hochkommt und in den See treibt«, sagte Taru. »Und wenn uns vielleicht doch jemand gesehen hat - dann wird es schwierig für mich, den Platz als Nachfolger meines Vaters einzunehmen.« Er maß Rar mit einem nachdenklichen Blick. »Und dich werden sie dann wahrscheinlich auch gleich gefesselt neben der Drude versenken.«

Rar kratzte sich am Kopf. »Ach so«, sagte er. Dann stutzte er allerdings. »Aber warum nur mich? Und nicht dich auch?«

»Weil ich Dragosz’ Sohn bin, und du nicht«, sagte Taru.

»Du magst ja Dragosz’ Sohn sein«, sagte Arri. »Aber das ändert doch nichts daran, dass du dumm wie Bohnenstroh bist.«

Arri konnte gar nicht so schnell sehen, wie Taru ausholte und ihr eine schallende Ohrfeige verabreichte. Ihr Kopf ruckte herum, und dann biss sie die Zähne zusammen, um nicht laut aufzustöhnen. »Ihr seid solche Feiglinge, ihr beiden«, stieß sie hervor, als sich Taru schon wieder abgewandt hatte. »Mehr als eine gefesselte Frau schlagen, das könnt ihr wohl nicht.«

Taru drehte sich herum, seine Augen blitzten hasserfüllt auf. Er hatte die Faust zum Schlag erhoben, und es sah so aus, als wolle er diesmal wirklich auf Arri losgehen. Aber jetzt war es ausgerechnet Rar, der ihm in den Arm fiel und sagte: »Was soll das denn? Eine gefesselte Frau zu schlagen, das ist wirklich keine Heldentat.«

Rar hätte Arri mit diesem Satz nicht mehr überraschen können, als wenn er auf sie zugegangen wäre, um ihre Fessel durchzuschneiden. Taru schien das genauso zu sehen. »Arri ist doch gar keine Frau«, fuhr er Rar an. »Sie ist eine Drude!«

Rar starrte ihn vollkommen verblüfft an. Taru versetzte ihm einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf, und Rar antwortete irgendetwas darauf. In Tarus Erwiderung lag mehr als nur eine Spur von Ungeduld. Arri achtete nicht länger auf den Wortlaut der beiden, sondern mehr auf den Tonfall. Und der klang so, als würden sie sich gleich beide gegenseitig an die Gurgel gehen.

Umso besser für sie. Nach langer Zeit hatte sie nun zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen, und auch wenn der feucht und modrig war und ihre nackten Füße in ihm einsackten, so war das nach der schrecklichen Bootsfahrt doch eine Wohltat. So gut es ging, setzte sie einen Fuß vor den anderen - was ihr allenfalls Trippelschritte erlaubte - und entfernte sich so weit wie möglich unbemerkt von den beiden in Richtung einer kleinen Brücke, die zwei winzige Inseln miteinander verband. Sie wäre mit Sicherheit noch etwas schneller vorangekommen, wenn sie wie ein Häschen gehoppelt wäre. Aber das wäre ihr nicht nur lächerlich erschienen, sondern auch viel zu laut und auffällig gewesen.

»Du hältst dich also für was Besseres als mich!«, brüllte Rar gerade, und Taru konterte mit: »Nein. Ich weiß sehr gut, dass ich auch wirklich etwas Besseres bin. Und ehe du dich versiehst, werde ich der Herrscher der Raker sein - und sollten Ragok und seine Leute hier auftauchen, dann bin ich auch der Herrscher aller Raker!«

Vorausgesetzt, du tötest vorher meinen Sohn, du Schweinekerl, dachte Arri.

Der Gedanke gab ihr neue Kraft. Zu ihrem Glück gehörte es, dass direkt vor ihr ein paar dichte in sich verfilzte Büsche standen, die ihr genug Sichtschutz geben würden, um sich in aller Ruhe von ihren Fesseln zu befreien - vorausgesetzt natürlich, man ließe ihr diese Zeit.

Danach sah es aber im Augenblick allerdings nicht unbedingt aus.

»Wo ist jetzt die Drude?«, hörte sie Rar aufbrüllen, und Taru antwortete nicht weniger leise: »Hast du sie etwa laufen lassen, du Dummkopf?«

Rars Antwort darauf endete mit einem erstickten Keuchen, und Arri konnte sich lebhaft vorstellen, dass ihm Taru gerade einen heftigen Klaps auf den Kopf versetzt hatte. Aber das war noch nicht alles. Von der anderen Seite her, also von dort, wo die flache Uferböschung in den schroff zu den Hügeln ansteigenden Bereich überging, erklang ein lauter Schrei. Arris Kopf fuhr herum. Sie wusste, dass die Männer oft tagelang auf ausgedehnten Jagdausflügen unterwegs waren, weil die Felder noch nicht genug abwarfen. Vielleicht brachen sie gerade wieder zu einem dieser Züge auf, und vielleicht hatte sich dabei jemand verletzt ...

Es war ein müßiger Gedanke, denn dem ersten Schrei folgte ein zweiter, und dieser klang so verzweifelt, dass sich Arri instinktiv ganz weit in den Busch hineindrückte, hinter dem sie Schutz gesucht hatte. Ihr Blick irrte über den Boden. Sie brauchte einen scharfkantigen Stein, mit dem sie die rauen Stricke, mit denen man sie gefesselt hatte, aufritzen konnte. Und dann musste sie hier unbedingt schnell weg, am besten in Richtung Steinbruch, zu ihrem Geheimversteck, in dem das Schwert lag. Und wenn sie erst einmal ...

»Ich finde ihre Spuren nicht«, fluchte Rar, und Taru zischte böse: »Vielleicht noch ein bisschen lauter. Das hilft beim Anschleichen.«

Da. Kein Feuerstein, aber etwas ähnlich Hartes. Arri drehte sich in die Richtung ihres Fundes und hangelte mit beiden Händen danach. Als sie es endlich in den Händen hielt, glaubte sie ganz in der Nähe ein Geräusch zu hören - und sie erstarrte mitten in der Bewegung, als ein Vogel nicht weit entfernt von ihr aufflatterte und sich mit schnellen Schwingbewegungen in den Himmel hinaufschraubte.

Es war gar nicht so leicht, den Stein so zu verkeilen, dass sie mit dem Strick, der um ihr Handgelenk festgezurrt war, darüberschaben konnte. Als der Stein endlich fest genug saß, war von Taru und Rar überhaupt nichts mehr zu hören. Sie konnte von Glück sagen, dass das Gras hier am See von zahlreichen Tieren niedergetrampelt war, die dieses flache Gelände offensichtlich als Tränke benutzten - sonst hätten die beiden wohl kaum ihre Fährte verloren.

Ihr Atem ging schnell und hektisch, und sie war aufgeregt, aber diesmal aus einem ganz anderen Grund als zuvor. Weder auf dem Steg, noch bei der abenteuerlichen Fahrt im Einbaum war ihr ernsthaft der Gedanke an Flucht gekommen. Jetzt sah das allerdings ganz anders aus. Sie hatte die Gelegenheit, und sie würde sie auch nutzen - und dafür sorgen, dass Taru niemals Kyrill in die Finger bekam.