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Arri hatte eigentlich noch etwas hinzufügen wollen, aber Larkars Worte verschlugen ihr die Sprache. Und schlimmer noch, sie ließen sie die volle Wucht des Verlustes spüren, den sie gerade erst erlitten hatte.

»Du hast Tränen in den Augen.« Larkar nickte. »Das verstehe ich. Dragosz ist wohl noch nicht lange tot ... und du hast ihn geliebt.« Er löste den Blick von ihr und starrte nach oben in den Himmel. Sein schmales, hageres Gesicht kündete von den Entbehrungen, die er erlitten hatte. Hunger und Schmerz, das war es, was sich in sein Gesicht eingebrannt hatte - und zwar in deutlich stärkerem Maße als bei den Menschen, die mit Dragosz gezogen waren.

Arri konnte nicht verhindern, dass sie laut aufschluchzte. Ihre Gefühle verwirrten sich vollkommen. Dragosz’ Tod - aber auch das, was er Ragok und denjenigen angetan hatte, die den Bruderverrat nicht einfach hatten hinnehmen wollen. All das war so schrecklich.

Jetzt wandte sich Larkar ihr nicht mehr zu. Er war wohl mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und da konnte ihn Arri nur zu gut verstehen. Denn es waren eine Menge Neuigkeiten, die er da gerade erfahren hatte - und das während einer Flucht vor einer Meute, die ihn und seinen Weggefährten offensichtlich schon seit geraumer Zeit jagte und gerade erst aufs Wildeste Pfeile verschossen hatte.

Als sich Arri endgültig abwenden wollte, um nach einem Fluchtweg Ausschau zu halten, drehte sich Larkar wieder zu ihr um. »Dann bist du eine von uns, obwohl ich dich noch gar nicht kenne.«

»Von uns?«, fragte Arri überrascht.

Larkar nickte ernsthaft. »Von uns Rakern.«

Arri brauchte eine Weile, um zu begreifen, was er damit meinte. »Eigentlich bin ich keine von euch«, sagte sie. »Meine Mutter stammt aus einem Land, das in den Fluten vor der Küste des großen Meeres im Norden längst versunken ist.«

»Und dein Vater?«

»Mein Vater?« Verwirrt schüttelte Arri den Kopf. »Ich weiß nichts von ihm. Ich bin in einem kleinen Dorf an einem friedlichen Fluss aufgewachsen ...«

Lexz schüttelte den Kopf. »Es kommt nicht darauf an, wo du aufgewachsen bist. Sondern darauf, für wen dein Herz schlägt.«

Ja, dachte Arri. Genauso war es wohl. Und als sie das dachte, hatte sie einmal mehr das Gefühl, ihrer Mutter ganz nah zu sein.

Das war seltsam. In ihrem Schmerz hatte sie Lea fast vergessen. Warum nur fühlte sie sich ausgerechnet in der Anwesenheit dieses fremden Kriegers Lea so nah?

»Unser Volk steht vor einer großen Prüfung«, sagte Larkar, als sie nicht antwortete. »Unser Schamane hat uns vorausgesagt, dass sich in den nächsten Tagen entscheiden könnte, ob wir weiterleben werden oder nicht. Ob uns auch künftig ein Leben in Frieden und Wohlstand beschieden sein wird, oder ob wir jämmerlich untergehen werden.«

Arri schreckte aus ihren Gedanken hoch. »Ich verstehe das nicht«, bekannte sie. »Welcher Schamane denn?«

»Hat dir denn Dragosz gar nichts von ihm erzählt?«

Arri schüttelte den Kopf. »Wir haben einen Ältestenrat, ja. Aber keinen Schamanen.«

»Ja«, bestätigte Larkar. »Ihr habt keinen Schamanen, weil Zakaan bei uns geblieben ist und nur sein Bruder Abdurezak mit Dragosz ging.« Er stockte, bevor er fortfuhr, und ließ seinen Blick erneut über ihre Umgebung schweifen. Offensichtlich rechnete er jederzeit mit einem weiteren Angriff. »Zakaan ist der wahrscheinlich größte und weiseste aller Schamanen, die jemals in der Mitte unseres Volkes gelebt haben. Er sieht Dinge, die kein anderer zu sehen vermag, und versteht Zusammenhänge, die kein anderer begreifen kann. Und er hat eine sehr kluge Art, mit Ragok umzugehen - der in diesen harten Zeiten zu allzu harten Entscheidungen neigt.«

»Ja«, sagte Arri. »Du hast recht. Dragosz hat mir kaum etwas von ihm erzählt.«

»Und das aus gutem Grund«, sagte Larkar. »Denn Zakaan hat seinen Untergang vorhergesagt und ihn gewarnt, Surkija zur Frau zu nehmen - und dadurch den Bruch mit Ragok zu riskieren.« Erschöpft schloss er die Augen, und Arri begriff, dass er nun am Ende seiner Kräfte war. Sie hatte in der letzten Zeit viel Leid und Elend gesehen, und wann immer möglich hatte sie zu helfen versucht.

»Du brauchst Ruhe«, stellte sie fest.

»Ruhe?« Es war fast ein Aufschrei. »Ich brauche vor allem etwas zu trinken. Meine Kehle ist vollkommen ausgedörrt.«

Arri zeigte hinter sich. »Dort ist der Fluss. Und da ist genug Wasser.«

»Ja. Und dazwischen sind Taru und die Dämonen.«

»Die Dämonen?«, echote Arri überrascht. »Welche Dämonen?«

Larkar winkte ab. »Das spielt im Augenblick keine Rolle. Ich muss wissen, wo ihr lagert. Habt ihr Urutark gefunden?«

Arri zögerte. Sie kannte nur Dragosz’ Version des Bruderzwistes, aber auch diese hatte sie nicht wirklich zufriedengestellt, bei aller Liebe zu Dragosz nicht. Sie hatte keine Ahnung, was wirklich vorgefallen war - und was er getan hätte, wenn er auf die verloren gegangene Hälfte seines Volkes gestoßen wäre.

Ihr Zögern schien Larkar gar nicht zu gefallen. Er beugte sich vor, und Arri fürchtete schon fast, er wolle sie schlagen. »Ich muss wissen, ob da Urutark ist!«

Arri hielt seinem Blick stand und schüttelte den Kopf. »Woher soll ich das denn wissen? Ich bin doch noch nicht einmal von eurem Volk.«

»Aber ...« Larkar brach ab und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Still. Da ist doch ...«

»Die ... Dämonen?«, fragte Arri leise.

Larkar zuckte mit den Schultern. »Ob es Dämonen sind, weiß ich nicht ... aber ... Vorsicht!«

Das letzte Wort zischte er. Doch es war zu spät. Arri hatte sich schon halb aufgerichtet und lugte nun hinter dem Felsen hervor - und erstarrte, als sie sich einem Mann gegenübersah. Nein, keinem Mann, sondern einem seltsam verkrümmt dastehenden Wesen, dessen Gesicht fast vollständig von einer Kapuze verdeckt wurde.

Der Missgestaltete hatte nicht in ihre Richtung geblickt. Aber jetzt sah er zu ihr hin. Sein Gesicht ... irgendetwas stimmte mit seinem Gesicht nicht ... buschige, geschwungene Augenbrauen, eine missgestaltete Nase über einem riesigen Mund, eine verzerrte Fratze und irgendetwas, das dort hinabhing, wo eigentlich die Ohren hätten sein müssen.

Arri wollte den Schrei unterdrücken, der aus ihr hervorzubrechen drohte. Aber es gelang ihr nicht ganz. Doch statt zurückzuspringen oder sonst irgendetwas Dummes zu tun, tat sie das einzig Richtige: Sie sprang vor, riss den Stein in ihrer Hand nach oben und ließ ihn mit voller Wucht in die fürchterlich missgestaltete Fratze hineinfallen.

Die Abwehrbewegung der Kreatur kam zu spät. Sie riss den Arm hoch, und Arri sah etwas Metallisches aufblitzen. Doch bevor sie die Waffe treffen konnte, taumelte der grauenvolle Angreifer schon zurück.

Der Stein hatte ihn unter dem Auge erwischt und eine tiefe Furche in die Haut geschlagen. Blut spritzte hervor, und dann noch etwas anderes. Arri musste vollkommen sinnloserweise daran denken, was Larkar gerade gesagt hatte: dass sich ihrer aller Schicksal in den nächsten Tagen entscheiden werde.

Sie taumelte an dem Verletzten vorbei und sah etwas, das sie fast noch mehr erschütterte als die Kreatur, die eben so plötzlich vor ihr gestanden hatte. Nur ein kleines Stück unter ihr war Taru durch das Gehölz gebrochen, vielleicht angelockt durch das Gespräch, das sie und Larkar geführt hatten.

Es hatte ihm kein Glück gebracht. Mehrere der Kapuzenkreaturen schienen ihn bereits erwartet zu haben, und jetzt drangen sie mit Stangen auf ihn ein.

Taru war schnell, das musste Arri ihm lassen, und er kämpfte genauso geschickt und rücksichtlos, wie ihm das Dragosz beigebracht hatte. Eine wuchtig geschlagene Stange sauste haarscharf an seinem Kopf vorbei, er tauchte darunter weg und stieß dem Angreifer den Fuß in die Magengrube, während er sich bereits umdrehte und der Kreatur, die ihm eben noch das Rückgrat hatte zerschmettern wollen, das Messer in den Hals stieß.