Das war entsetzlich gewesen. Alles, was sie sich hier an diesem abgelegenen See zusammen aufgebaut hatten, in der neuen Heimat der Raker, all das, was sie sich an gemeinsamer Zukunft mit Dragosz und ihrem gerade erst geborenen Sohn erträumt hatte, alles, was sie vorgehabt hatten, um mithilfe der Himmelsscheibe die Hungersnot in der Zeit großer Dürre einzudämmen - mit einem Schlag hatte das Schicksal es hinweggewischt.
Doch das, was sie jetzt durchmachte, war erst der Auftakt zu etwas noch viel Schlimmerem. Zu begreifen, dass sie selbst es war, die versagt hatte. Zu begreifen, dass sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren hatte, obwohl sie ihn doch eigentlich hätte retten können. Zu wissen, dass zahlreiche Männer und Frauen gestorben waren und andere um ihr Leben gerungen hatten, ohne dass sie dem Einhalt geboten hatte, wie es ihre Pflicht als Heilerin gewesen war. Ja, sie hatte schon versucht zu lindern und zu helfen, sie hatte all das geheime Wissen aufgeboten, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. In aller Eile hatten sie und Isana einen Entgiftungstrank zu brauen versucht, etwas, das die Eingeweide reinigt und alles Giftige von innen herausspült. Wenn sie nur die richtigen Kräuter zur Hand gehabt hätte, wenn sie in den letzten Tagen nur nicht so nachlässig gewesen wäre, ihrer Pflicht nachzugehen, wenn sie sich nur weniger um Kyrill, ihren Sohn gekümmert hätte, wenn sie ...
Sie riss die Hände hoch und hämmerte sich mit den zusammengebundenen Fäusten gegen die rechte Schläfe, als könne sie diese Nachlässigkeit damit ungeschehen machen. Ein Windzug fegte wie zur Antwort über das feuchte Holz, auf dem sie seit Anbeginn der Nacht hockte. Und irgendwo in der Ferne donnerte es, als zöge dort ein Gewitter auf. Das Gemurmel der alten Männer, die sich in der großen Zeremonienhütte am Nachbarsteg versammelt hatten, verstummte, um dann umso lauter wieder einzusetzen. Arri ließ die Hände sinken und starrte in den Himmel. Keine Spur von einem Gewitter, und doch, sie war sicher: Das war ein Donnerschlag gewesen. Ein Zeichen der Götter womöglich, die im Gegensatz zum Ältestenrat schon längst ihr Urteil über sie gesprochen hatten?
Wie zur Antwort krächzte in diesem Augenblick direkt über Arri ein Vogel. Es war ein so schauerlicher Laut, dass sie erschrocken die Hände sinken ließ und den Kopf nach oben riss. Ein großer schwarzer Vogel flog über sie hinweg, und für die Dauer eines Lidschlags sah es so aus, als blicke er aus dunklen tückischen Augen auf sie herab: so höhnisch, kalt und grausam, als labe er sich an ihrem Schmerz. Arri hatte das Gefühl, von einer kalten Hand gestreift zu werden. Aber dann flog der schwarze Vogel auch schon auf die offene Fläche des Sees zu, und als er das jetzt kräftigere Rot der Morgensonne erreichte, sah es aus, als würde er mit seinem dunklen Gefieder in einen Strom von Blut eintauchen. Arri starrte ihm ungläubig hinterher. Es gab hier viele Vögel, die meisten waren klein und bunt, und auch einige Reiher und Schwäne, aber keine Krähen - und erst recht keine Raben. Dies hier aber war der größte und widerlichste Rabe, den sie jemals gesehen hatte.
Jetzt war sie sich sicher, dass die Götter ihr Urteil gefällt hatten. Von Lea wusste sie, dass es Raben gab, die mehr waren als nur große Vögel, dass sie mächtig waren, manchmal auch weise, zumeist aber hart und grausam: Boten der Götter, die im Vorfeld eines großen Unglücks geschickt wurden, vielleicht, um die Menschen zu warnen, vielleicht aber auch nur, um sie zu verhöhnen.
Mit einem Schaudern wandte sich Arri wieder ab und blickte zu dem Mann hinab, mit dem sie seit zwei Sonnenwenden das Lager geteilt hatte, und der nun tot und aufgebahrt unter ihr lag. Ein einzelner Sonnenstrahl tastete sich durch das Schilf und glitt mit einer fast zärtlich wirkenden Geste über Dragosz’ Gesicht. Fast schien es ihr, als blinzele er, durch die Helligkeit geweckt, und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Was, wenn er nun doch die Augen aufschlug, sie mit kaltem Blick musterte, um sich dann von seinem Totenlager zu erheben? Was, wenn er das kostbare Schwert, das zur Vorbereitung für einen letzten Kampf in der Ewigkeit neben ihm lag, noch fester packte? Was, wenn er sie damit enthaupten wollte - zur Strafe dafür, dass sie so schrecklich versagt hatte?
Eine Träne lief ihr über die Wange, ganz langsam und fast zögernd. Während dann Sonnenstrahl auf Sonnenstrahl durch das Schilf brach und mit seinen Ausläufern über Dragosz’ Gesicht und Körper glitt, streckte sie allmählich die Hand aus und beugte sich ein Stück weiter vor, zwischen Angst und Hoffnung zerrissen.
Da ... da zuckte ein Mundwinkel ... Da rührte sich ein Finger ... Da ... streckte sich ein Arm ...
Dann brach das Gemurmel der alten Männer in der Zeremonienhütte ab.
Kapitel 2
Zakaan spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen, ein Gefühl an der Wahrnehmungsgrenze, so zart und sacht, dass er es fast nicht bemerkt hätte. Lange Zeit hatte er auf diesen Augenblick gewartet, viel zu lange schon, und obwohl er oft genug versucht hatte, in die Szene, die ihn jetzt erwartete, hineinzutauchen, war ihm doch so, als entglitte ihm nun alles, als verflüchtige sich mit jedem Atemzug ein Stück seiner Sicherheit.
Wie schon unzählige Male zuvor saß er am Feuer, und doch war alles ganz anders als sonst. Es war nicht Tag, es war nicht Nacht, es war die Zeit dazwischen, die Zeit im Nirgendwo, in der der Mond gerade noch als fahle gelbe Sichel sichtbar war und sich die Sonne doch schon zaghaft vorschob, um die Welt in das gleiche Blutrot zu tauchen, das ein Kind sah, bevor es Ygdra aus dem Schoß seiner Mutter als Neugeborenes in die Welt entließ. Und Ygdra war es auch, die ihm als Göttin der Fruchtbarkeit das Fleisch der Göttin angeboten hatte. Doch dazu hatte er erst einmal die ganze Nacht über mit großer Sorgfalt alle notwendigen Rituale vollziehen müssen, um sich dann im Licht der blutigen Morgensonne ganz der geheimen Pilzmischung der Göttin hingeben zu können.
Zakaan tat dies mit aller Vorsicht, und auch nur dann, wenn er es als wirklich notwendig empfand. Der Pilzgenuss konnte schlimme Folgen haben, zu Krämpfen führen, zu dauerhaften Wahnvorstellungen, oder sogar tödlich enden. Doch dieses Wagnis musste er eingehen. Es gab so vieles, was er zu klären hatte, und so viele Antworten, die ihm Ragok der Bezwinger vollkommen zu Recht abverlangte, um zu entscheiden, wie es im Kampf um Urutark weitergehen sollte.
Und ganz nebenbei wäre er auch bereit, sein eigenes, ohnehin schon viel zu lange währendes Leben zu opfern, wenn sein Volk dadurch nur endlich zur Ruhe kam. Und vielleicht auch nur, wenn es irgendwie weiterging, wenn wieder gesunde Kinder geboren wurden und zumindest die Chance hatten, in einer Welt aufzuwachsen, die lebenswert war und so fest gefügt, dass sie auch das Erwachsenenalter erreichen konnten. Es durfte so nicht mehr weitergehen, es musste sich etwas ändern, und zwar ganz schnell!
Ragok sah es ganz genau so. Bei ihrer Ankunft hier vor zwei Tagen hatte der Herrscher des zusammengeschmolzenen Haufens nach oben geblickt und gesagt: »Siehst du das da oben, alter Freund? Es sieht ganz danach aus, als würdest du dort nach langer Zeit endlich wieder Steine für einen Kreis der Ygdra finden. Dies ist ein gutes Omen. Ygdra wird dir dabei helfen, den Beistand der Stammväter zu erflehen. Und wenn du es richtig anstellst, wird sie dir zeigen, wo wir die Himmelsscheibe finden können, um mit ihrer Hilfe den Sieg zu erringen!«
Zakaan hatte nur genickt, während sich Ragok weiter umgesehen hatte, um zu entscheiden, wo sie für die nächsten Nächte lagern und vielleicht sogar ein paar einfache Hütten errichten konnten. Es war beschlossene Sache, mit allen weiteren Schritten auf die Rückkehr der Kundschafter zu warten, die sowohl nach Urutark als auch nach Arianrhod und der Himmelsscheibe Ausschau halten sollten. Und fast noch wichtiger für eine glückliche Wendung ihres Schicksals war, dass er sich selbst mit dem Geist der Stammväter verband und mit ihnen um das künftige Schicksal seines Volkes rang, bevor sie sich auf das Abenteuer einer Auseinandersetzung mit Dragosz einließen.