Der Wind strich so sanft wie eine beruhigende Hand über ihn hinweg, aber Lexz hockte weiter in einer angespannten und verkrampften Haltung da. Er dachte an seinen toten Bruder Nakur, und außerdem dachte er an Larkar. Es wurde Zeit, dass das Sterben aufhörte.
Genau das Gleiche hatte auch Zakaan in letzter Zeit immer wieder gesagt. Kein Wunder, dass seine Gedanken jetzt zu dem alten Schamanen wanderten, der ihm immer eine Stütze gewesen war. Zakaan hatte ihm geholfen, wann immer er sich schwach und unsicher gefühlt hatte.
Und genau das tat er auch jetzt: sich schwach und unsicher fühlen.
»Einer Gefahr aus dem Weg gehen, das kann man doch erst, wenn man sie auch wirklich kennt«, glaubte er die Stimme Zakaans zu hören, als er sich endlich mit dem Rücken an einen Baum gelehnt hatte, um erst einmal etwas zur Ruhe zu kommen.
So gut es im verblassenden Sonnenlicht ging, sah er durch das dichte Unterholz hindurch und in die sich leicht im Wind wiegenden Gräser und Sträucher hinein. Der Anblick erinnerte ihn an eine andere, glücklichere Zeit. In ihrem Heimatdorf hatte er oft am Feuer gesessen, in dem funkensprühend die Opfergaben verbrannten, die sie ihm zuvor übergeben hatten - in den guten alten Zeiten, als sie noch genug hatten erübrigen können, um den Göttern ein angemessenes Opfer darbieten zu können ...
Lexz versuchte die Augen offen zu halten und nach allem Ausschau zu halten, was verdächtig sein konnte. Aber das wollte ihm nicht gelingen. Es war Zakaans Stimme, die er jetzt hörte, und nicht mehr das Rauschen des Windes und das Rascheln der Blätter. Er hörte den leicht knarrenden, dumpfen Unterton, der vor allem dann die Worte des Schamanen begleitete, wenn er den jungen Kriegern etwas Wichtiges mit auf den Weg gab. Etwas nämlich, das ihnen helfen sollte, die Gefahren zu bestehen, die in der unbekannten Welt lauern mochten, in die sie sich auf der langen Wanderung und Suche nach Urutark aufmachten.
»Wann immer du nicht mehr weiterweißt, werde ich dir helfen können«, hatte Zakaan damals gesagt. »Ich werde in deinen Gedanken sein, wann immer du mich brauchst. Alles, was du dafür tun musst, ist, dich auf meine Stimme zu konzentrieren. Und auf deine Atmung.«
Lexz wusste, dass Zakaan recht hatte. Allein war man verloren. Es war das Wissen und die Weisheit der Ahnen, die einen stark machten. Das Wissen, das durch den Schamanen sprach, und für das man sich öffnen musste, wollte man in dieser Welt bestehen, in der doch alles drunter und drüber ging.
»Konzentriere dich auf deine Atmung«, hatte ihm Zakaan auch dann immer gesagt, wenn er allein mit ihm am erlöschenden Feuer gesessen hatte, nachdem die anderen bereits längst verschwunden waren und sich für eine weitere Nacht auf dem harten Untergrund einer fremden Welt gebettet hatten. »Dein Atem spendet dir die Kraft, die die Götter zum Beginn der Zeiten auf die Welt geblasen haben, als sie Menschen und Tiere erschufen. Dein Atem verbindet dich mit dem Atem der Tiere, die du jagst. Er verbindet dich mit den Menschen, die du liebst, und ebenso mit den Menschen, die du hasst. Vor allem verbindet er dich aber mit dem Atem der Götter.«
»Der Atem der Götter«, flüsterte Lexz. »Wir müssen uns auf den Atem der Götter besinnen.«
Aber ob das half, wenn man eine zarte mädchenhafte Erscheinung gesehen hatte, deren Anblick den eigenen Tod verkündete?
Torgon drehte sich zu ihm um und sah ihn stirnrunzelnd an. Lexz konnte in diesem Augenblick nichts anderes denken als: ob er überhaupt richtig atmen kann, so dick wie er ist? Und warum muss er eigentlich ständig irgendetwas in sich hineinstopfen?
»Zakaans kluge Ratschläge helfen uns hier nicht weiter.« Torgon schüttelte besorgt den Kopf. »Wir müssen selbst entscheiden, was jetzt zu tun ist.«
»Ja, das sehe ich auch so«, pflichtete ihm Ekarna bei, bevor Lexz etwas sagen konnte. Sie wandte ihren Kopf nach rechts. »Habt ihr das vorhin auch gesehen? An der Grube? Kurz bevor wir losgegangen sind?«
»Ja, ich habe jemanden gesehen«, sagte Torgon schmatzend. Er nahm etwas Undefinierbares auf, roch daran und biss dann herzhaft hinein. »Einen muskelbepackten Kerl mit wildem Bart und einem noch wilderen Funkeln in den Augen, der eine riesige Keule in der Hand hatte. Und dann war da noch einer, der mit einem Speer auf uns losgehen wollte. Aber dem hast du ja einen gehörigen Schrecken eingejagt, dadurch, dass du deine Zähne in ihn vergraben hast.«
Es war wohl mehr als nur ein Schrecken gewesen, dachte Lexz, sprach jedoch die Worte nicht aus. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Ekarna.
Und dann sagte sie fast unhörbar genau den Satz, von dem er schon gefürchtet hatte, dass sie ihn sagen würde: »Nein, das meine ich nicht.«
»Aha«, machte Torgon. »Und welchen von unseren vielen anderen Angreifern meintest du dann?«
Ekarna zögerte. »Keinen der Angreifer«, sagte sie schließlich.
Nein, wisperte eine Stimme in Lexz’ Gedanken, etwas viel Schlimmeres. Eine Todessyre.
Aber warum hatte Ekarna sie dann auch gesehen? Stand etwa auch ihr der Tod bevor? Waren sie denn beide todgeweiht?
»Was ist nun?«, drängte Torgon. »Wen hast du gesehen?«
Ekarna antwortete darauf etwas, das Lexz nur zu gut verstand. Denn wenn sie das Gleiche wie er gesehen hatte, ein zartes Mädchen, fast durchsichtig, das mit einer Stimme sprach, die keinem menschlichen Wesen gehören konnte, dann würde sie dies aus dem gleichen Grund verschweigen wie er selbst.
Weil es nichts war, über das man sprechen sollte.
»Ich weiß nicht, wen oder was ich gesehen habe«, sagte Ekarna. »Und ich weiß auch nicht, was uns getroffen hat ... Dieses Zeug aus der Grube ...«
»Meinst du, nachdem uns die Dämonen und bevor uns die Höhlenmenschen angegriffen haben?« Torgon spuckte etwas aus und verzog angewidert das Gesicht - was Lexz mehr als gut verstehen konnte. Denn das, was er ausgespuckt hatte, schlängelte sich nun davon. »Da wollte mich das kleine Mistvieh doch in den Mund beißen!« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich das richtig zähle, war das damit der dritte Angriff heute.«
Ekarna antwortete nicht, sondern stierte nur vor sich auf den Boden.
»Gut, ich habe verstanden.« Torgon sortierte etwas aus seinen Essvorräten aus und warf es davon. »Heute also kein Lebendfutter mehr.« Er wandte sich an Ekarna, und sein Gesichtsausdruck wirkte jetzt deutlich ernster als sein lockeres Gerede hatte vermuten lassen. »Du meinst etwas anderes. Und etwas, das auch nicht appetitlich ist.«
»Ja. Oder nein.« Ekarna zuckte mit den Schultern. »Ich will jetzt gar nicht über diese ... Grube reden. Und das, was da hochgespritzt ist.«
»Schleim«, unterbrach sie Torgon. »Ekelhafter, gelbgrüner Schleim. Ich habe das Zeug schließlich ins Gesicht bekommen. Und überall, wo es mich getroffen hat, hat es gebrannt und gejuckt, als hätte mir jemand Brennnesseln ins Gesicht geschlagen. Was ist das?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholt Ekarna. Ihre Stimme klang flach, der Blick ihrer grünen Augen flackerte. »Es ist ... wie ein Zeichen der Götter ...«
»Klar«, Torgon nickte, »all das sind Zeichen der Götter. Aber welcher Götter, Ekarna? Unserer - oder der unserer Feinde?«
Lexz fand, dass das eine sehr gute Frage war.
Wer hatte ihm die Todessyre geschickt? Vielleicht die Götter seiner Feinde?
»Das ist die falsche Frage«, glaubte er Zakaan antworten zu hören. »Dragosz’ Leute sind nicht unsere Feinde. Sie gehören zu uns. Sie müssen sich aber erst wieder darauf besinnen.«
»So wie ich mich auf meinen Atem besinnen muss«, murmelte Lexz.
Ekarna warf ihm einen schrägen Blick zu, aber Torgon achtete gar nicht auf ihn. Er stellte Ekarna eine ganze Menge Fragen zu der Leichengrube, und das wohl hauptsächlich deshalb, weil Ekarna ersatzweise die Funktion einer Heilerin übernommen hatte und viele Dinge wusste, für die er und Lexz noch nicht einmal Worte hatten. Ekarna hatte jedoch keine schnelle Erklärung bereit und war offensichtlich mit ihren Gedanken auch ganz woanders - was Torgon jedoch nicht daran hinderte, immer wieder auf sein augenblickliches Lieblingsthema zurückzukehren.