Wenn er gekonnt hätte, hätte sich Lexz mit beiden Fäusten gegen die Schläfen geschlagen, um diese Stimme zu vertreiben. Allmählich war er es leid. Irgendwann musste mit dieser ständigen Bevormundung durch einen alten Mann Schluss sein, einen Alten, der es auf irgendeine geheimnisvolle Weise immer wieder schaffte, in seinen Kopf einzudringen.
»Deine Gedanken verwirren sich schon wieder«, tadelte ihn der Schamane. »Besinne dich endlich auf das, was wirklich wichtig ist. Schöpfe die Kraft aus dir selbst! Sei wie das Auge des Wirbelsturms, nicht wie der Sturm selbst!«
»Ja, danke schön!« Lexz nahm Schwung und rollte sich herum. Seine Arme waren noch immer nicht wirklich einsatzfähig, und die brennenden Schmerzen wurden dadurch auch nicht gerade gelindert - aber er spürte immerhin, wie etwas Leben in seine Arme und Beine zurückkehrte.
»Wut kann helfen«, sagte der Schamane. »Aber du darfst dich nicht von ihr leiten lassen. Du musst den Dingen die Zeit lassen, die sie brauchen. Besinne dich stattdessen auf die Kraft, die in der Ruhe liegt.«
»Ja«, schimpfte Lexz. »Ich lasse den Angreifern die Zeit, Torgon und Ekarna in aller Ruhe zu erschlagen. Eine wirklich gute Idee.«
»Willst du ihnen denn tatsächlich in deinem jetzigen Zustand gegenübertreten?«, fragte der Schamane in seinem Kopf.
Nein, das wollte er natürlich nicht.
»Du würdest nichts weiter nützen, als deine Gefährten von ihrem eigenen Kampf abzulenken«, gab Zakaan zu bedenken. »Sie müssten dich beschützen. Das würde sie schwächen.«
»Unsinn«, murmelte Lexz. »Im Gegenteil, ich würde ihnen doch beistehen!«
Wenn er erwartet hatte, dass er jetzt eine Antwort bekam, sah er sich getäuscht. Die Stimme in seinem Kopf schwieg, als wolle sie ihm Gelegenheit bieten, selbst zu erkennen, dass er groben Unsinn redete.
Und das tat er. Was hatte sein Vater ihm immer wieder gesagt? Wenn man in einem Kampf nicht bestehen kann, dann sollte man ihm besser aus dem Weg gehen.
»Lass Ekarna und Torgon ihren Kampf austragen«, sagte Zakaan. »Und finde du zu dir selbst. Lass dir dazu all die Zeit, die du brauchst. Und gib deinen Gefährten die Chance, ohne dich zu bestehen.«
Lexz hörte Zakaans Stimme. Aber er war durch das, was von dem Kampf zu ihm hinüberdrang, abgelenkt. Und dabei begriff er seinen Irrtum.
An sein Ohr drangen nicht die Laute eines schnellen Gemetzels, begleitet von Schmerzensschreien oder sogar dem Geräusch berstender Knochen, sondern die eines sich lang hinziehenden Kampfes. Und der fand auch nicht nur an einem Ort statt, sondern zog sich am Bach entlang und entfernte sich dabei von ihm. Wahrscheinlich waren Ekarna und Torgon auf der Flucht und wurden dabei immer wieder angegriffen. Dazu passte auch, dass er zwischendurch nichts weiter hörte als ein fernes Rascheln, dann wieder Kampflaute, hin und wieder ein Wimmern und schließlich das Stampfen von Füßen auf dem Waldboden.
Erneut biss Lexz die Zähne zusammen, stützte die Hände auf - und schaffte es diesmal, sich hochzustemmen. Sein Herz hämmerte wie wild und seine Umgebung vollführte einen wilden Tanz um ihn.
»Sehr gut«, lobte ihn der Schamane. »Jetzt kannst du über deine nächsten Schritte entscheiden.«
Und das im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Lexz, denn statt das Gleichgewicht zu halten und die kurze Entfernung zu überwinden, die ihn noch vom Ufer trennte, stand er nur weiter unsicher und schwankend da.
So nicht, dachte er, und stolperte los ... bis seine Knie nachgaben und er so schnell in sich zusammensackte, als wäre er niedergeschlagen worden.
»Nur der Dumme verschwendet seine Kraft in unnützen Handlungen«, bemerkte Zakaan überflüssigerweise.
Lexz ballte die rechte Faust so fest er konnte. Es war nicht besonders fest. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm.
»Ich hoffe, du bist nicht dumm«, fuhr der Schamane fort, »und du besinnst dich endlich auf den immer gleichen Rat, den ich dir auch jetzt wieder gebe: Achte auf deinen Atem. Verbinde ihn mit dem Atem der Götter.«
»Ja, aber wie soll ich das denn tun?« Lexz hatte die Worte viel zu laut hervorgestoßen, und nun dämpfte er seine Stimme. »Ich schaffe es doch nicht. Ich habe das noch nie geschafft.«
»Nein«, widersprach ihm der Schamane. »Das stimmt nicht. Du glaubst nur, dass du es noch nie geschafft hast. In Wirklichkeit hast du es sogar immer und immer wieder geschafft. Oder, warum meinst du, überträgt dir dein Vater das Kommando über solche Männer und Frauen wie Torgon und Ekarna?«
Lexz schüttelte den Kopf. So hatte er das noch nie gesehen. Und obwohl er die Worte des Schamanen nicht einfach als zutreffend annehmen konnte, spürte er doch in der Tiefe seines Herzens, dass etwas Wahres daran war.
»Ich lasse gerade meine Freunde im Stich«, murmelte er.
»Weil du dich hast niederschlagen lassen?« Lexz glaubte, jetzt das alte, zerfurchte Gesicht des Schamanen vor sich zu sehen. Und es lag nicht nur Kummer darin, sondern auch Zuversicht. »Nein. So etwas geschieht, und so etwas wird auch immer wieder geschehen. Aber solange du nicht tot bist, geht es immer weiter. Es gibt keinen Tag, an dem nicht eine neue Herausforderung auf dich warten wird, ob im Großen oder Kleinen. Und nur, wenn du es schaffst, diese Herausforderungen auch anzunehmen, wirst du an Stärke gewinnen. Sonst bleibst du ein Hohlkopf.«
Ein Hohlkopf. Das saß. Aber vielleicht lag auch darin etwas Wahres.
»Eines Tages werde ich nicht mehr da sein«, sagte der Schamane. »Und dann musst du selbst in der Lage sein, zu dir zurückzufinden. Und zu den Weisheiten, die dir die Stammväter vermitteln können. Also fängst du am besten jetzt gleich damit an.«
»Was?«
Der Schamane antwortete nicht. Und Lexz begriff, dass er das auch nicht mehr tun würde - zumindest jetzt nicht, und vielleicht auch niemals wieder.
Plötzlich spürte Lexz eine Art des Verlustes, wie er ihn noch nie zuvor empfunden hatte, noch nicht einmal nach dem Tod seines Bruders. Er war allein. Torgon und Ekarna entfernten sich immer mehr von ihm, und das, was jetzt noch an sein Ohr drang, war viel zu fern, als dass er irgendeine Schlussfolgerung hätte daraus ziehen können.
Eine Falle war nur dann vollkommen, wenn sie kein Schlupfloch ließ. Das wusste Arri, und wenn es irgendeine andere Möglichkeit gegeben hätte, als das Haus durch den Vordereingang zu verlassen, dann hätte sie sie mit Sicherheit gewählt. Aber so blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Tür aufzustoßen und aus dem Halbdunkel heraus auf den Weg hinauszuspringen ...
Nein!, schrie irgendetwas in ihr, und sie bremste noch vor dem Ausgang ab, verhielt mitten in der Bewegung wie ein Reh, das von Jägern in eine Schlucht gehetzt worden ist und nun keinen Ausweg mehr sieht. Ihr Blick irrte im Raum umher, ihr Herzschlag überschlug sich fast, und sie wusste nicht, was sie tun sollte: durch die Tür stürzen oder wieder zurück in den Raum, sich mit Larkar beraten, oder einfach auf eigene Faust handeln ...
Als hinter ihr die ersten Männer die Treppe hinunterpolterten und der Lehmboden unter ihr erzitterte, konnte sie gar nicht mehr anders ... nun stieß sie die Tür doch auf und stürmte hindurch, ihre Stange zum Zuschlagen bereit.
Es wartete jedoch keine zweite Gruppe bewaffneter Männer auf sie, auf die sie hätte einschlagen können und müssen, es war niemand da - bis auf ein kleines mageres Kätzchen, das ihr den Weg versperrte und sie aus schielenden Augen anstarrte.
Arri versuchte, über das Kätzchen hinwegzuspringen. Aber sie war schon so nah. Ihr Fuß jagte auf die Katze zu, und das Schielen der Katze verstärkte sich noch, was Arri absurderweise überdeutlich und wie verlangsamt bemerkte. Und dann kreischte das kleine Wesen auf. Aus dem Kreischen wurde noch etwas anderes, Schlimmeres, als Arris Fuß das Kätzchen traf und wie ein altes Wollknäuel wegtrat.