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»Also geh nach oben, lass dir von allen verfügbaren Männern und Frauen helfen, und baut einen Steinkreis«, befahl Ragok. »Und lasst euch nicht zu viel Zeit damit. In den nächsten Tagen stehen große Entscheidungen an.«

Zakaan war der Aufforderung gefolgt, so gut es ging. Sie hatten bereits etliche Findlinge zusammengetragen, den Steinkreis selbst aber mit den wenigen helfenden Händen, die ihnen zur Verfügung standen, noch nicht errichten können. Es fehlte ihnen an allem, an Trommeln, Rasseln und Pfeifen, an der farbenfrohen Kleidung, die auf ihren heimatlichen Webstühlen gefertigt wurde: mit den Bronzeknöpfen und den Vasennadeln, mit denen die weiten Obergewänder der Tänzer zusammengehalten wurden, die sich bei Drehbewegungen so sehr aufblähten, als würden sie jeden Augenblick von einem Windzug davongetragen werden. Vor allem aber mangelte es ihnen an Menschen, die zupacken konnten und sich in den Dienst des Ritus stellten. Die meisten Männer und Frauen waren damit beschäftigt, das zusammenzutragen, was fürs Überleben notwendig war: Nahrung und Baumaterial für die einfachen Hütten, die eigentlich eher Zelte waren: auf die Schnelle mit allem errichtet, was sich in der unmittelbaren Umgebung auftreiben ließ.

»Wir müssen siegen«, hatte Ragok zu ihm gesagt und ihn an der Schulter gepackt, als wolle er ihn durchschütteln. »Verstehst du das? Wir müssen einfach siegen!«

Es lagen gleichzeitig Schwäche und Stärke in seiner Stimme, und ein unduldsamer Unterton, der Zakaan hatte erschaudern lassen.

»Ich werde meinen Sohn Lexz mit ein paar Männern losschicken. Sie sollen nach Urutark Ausschau halten - und nach meinem Bruder.« Das letzte Wort spie Ragok aus, und es lag der ganze Hass darin, den er seinem jüngeren Bruder Dragosz gegenüber empfand.

»Und sie müssen auch nach der Himmelsscheibe Ausschau halten«, gab Zakaan zu bedenken. »Die Stammväter haben mir aufgetragen, nach ihr zu suchen - und nach der Frau, die sie jetzt in ihrem Besitz haben soll ...«

Ragok hatte ihn wieder losgelassen, und als sich der Schamane an den hasserfüllten Blick seines Herrschers erinnerte, fand er in die Wirklichkeit zurück.

Er atmete tief durch. Wie hatte das alles nur geschehen können? War es wirklich richtig gewesen, trotz der Dürre so lange in der alten Heimat auszuharren, statt mit Dragosz’ Leuten gemeinsam aufzubrechen?

Er wusste es nicht. Damals, nach dem heftigen Streit zwischen Ragok und Dragosz, war ihm alles ganz anders erschienen. Sie hatten geglaubt, einfach ein Stück weiter nach Westen ziehen zu müssen, um in Urutark wieder an ihr altes Leben anzuknüpfen.

Was für eine Fehleinschätzung. Erst auf der Wanderung war ihnen dann klar geworden, wie gut ihr altes Leben gewesen war - und wie unerreichbar fern es war. Statt sich wie in letzter Zeit auf ein wechselhaftes Jagdglück und das Sammeln von Beeren, Früchten und Pilzen verlassen zu müssen, hatten sie damals hauptsächlich von dem leben können, was die üppigen Felder abwarfen, und was die Fischer im Fluss und in den nahegelegenen Seen fingen. Statt auf harter Erde zu nächtigen, hatten sie in gut gebauten Langhäusern gewohnt. Statt vor Durst fast wahnsinnig zu werden, hatten sie immer genug Trinkwasser in der Nähe gehabt.

Und nicht nur das. Die meisten Kinder, die geboren wurden, hatten die ersten gefährlichen Wochen überlebt, und nur wenige Mütter waren bei der Geburt gestorben. Die Gemeinschaft war ständig gewachsen, hatte neuartige Webstühle mit immer mehr Webgewichten gebaut, auf denen sich ihre Kleidung schneller als je zuvor hatte herstellen lassen. In ihrer geräumigen Schmiede hatten sie Waffen und Werkzeuge aus Bronze hergestellt, sowie Ringe, Rasiermesser, Halsschmuck, Gürtelschnallen und allerlei Kleinodien. Ihre Keramik war reich verziert gewesen, und ein begehrtes Handelsgut, das sie gegen Bronzebarren oder Erz hatten eintauschen können.

Eine glückliche Zeit. Und jetzt? Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich für die große wichtige Aufgabe zu sammeln, die vor ihm lag. Und sich dafür auch auf die Kraft zu besinnen, die ihm die erschöpften, vom Schicksal geschundenen Menschen seines Volkes gaben, die zum ersten Mal seit Langem ein halbwegs bequemes Nachtlager gefunden hatten.

Das Lager lag ein gutes Stück unter ihm, klug gewählt an einer Stelle, an der ein Felshang Schutz auf der einen Seite versprach, und auf der anderen verdeckte ein üppig zugewucherter Hang die Sicht auf sie selbst; zudem sprudelte ganz in der Nähe beständig frisches Wasser aus einer Quelle - ein Luxus, der ihnen während der großen Wanderung nicht ein einziges Mal vergönnt gewesen war. Zakaan wusste, dass sich die anderen auf den weichen Waldboden gebettet hatten, und dass sie dort besser und länger schlafen würden als auf dem harten ausgetrockneten Untergrund, mit dem sie in letzter Zeit viel zu oft hatten vorlieb nehmen müssen. Doch er ahnte auch, dass Ragok bereits lange wach war und zu ihm nach oben starrte, um sich dann durch den kunstvoll gerichteten Bart zu fahren, den Kopf zu schütteln und in die Richtung zu blicken, in der sie alle miteinander Urutark vermuteten. Er spürte die Nähe seines Herrschers und die der anderen Menschen, seiner Menschen, seines Volkes, für das er sich viel verantwortlicher fühlte, als es irgendein anderer je vermocht hätte - Ragok selbst einmal ausgenommen.

Er wusste und spürte dies alles - und doch war es ihm so fern, dass es ihm seltsam fremd vorkam.

Die Wirklichkeit war inzwischen jedenfalls eine andere: das sachte Kribbeln in seinen Fingern, die von Rauchkraut satt geschwängerte Luft, das rituelle Murmeln der drei Männer, die versuchten, die bösen Geister auch ohne das bunte Treiben von Tänzern und Trommlern zu vertreiben, die feierliche, gelöste Stimmung, die ihn ergriff, nachdem er sich durch das Fleisch der Götter in einen Zustand der Empfängnis versetzt hatte. Und der Mond, der als Sichel so groß und deutlich sichtbar über dem Tal hing, als wäre er nicht viel ferner als einen Pfeilschuss.

Mit der Sonne, die ein Stück weiter weg über den Bäumen aufgehen würde, war es etwas anderes. Obwohl es wieder ein heißer Tag werden würde, wärmte sie noch nicht. Und doch brodelten schon jetzt die Kräfte des Feuers in ihr, mit dem sie über die Welt gekommen war, als würde sie sie bis zum letzten Winkel ausbrennen wollen. Die Sonne war ein Gott mit zwei Gesichtern. Lebensspender nannten ihn die Menschen, wenn er ihnen die notwendige Wärme schenkte, Verderber flüsterten sie dagegen hinter vorgehaltener Hand, wenn sie mit unbarmherziger Kraft auf die Wiesen und Äcker niederbrannte, bis alles verdorrt und vertrocknet war.

Ein Schwarm Vögel stob über die Bäume hinweg, und Zakaan spürte den Freiheitsdrang, der sie erfasst hatte. Doch statt in den Himmel hinaufzusehen, in dessen Unendlichkeit der Schwarm entschwand, sah er auf die Erde hinab. Sie war feucht und satt, nicht so hart und ausgetrocknet wie der Boden, über den sie sich viel zu lange vorwärtsgequält hatten. Langsam und vorsichtig senkte er die Hände. Er spürte seine Arme kaum. Sie waren so schwer, als wären sie mit Steinen gefüllt, und doch hatte er keine Mühe, sie langsam und vorsichtig zu bewegen.

Als seine Fingerkuppen die weiche, von Tannennadeln spärlich bedeckte Erde berührten, verstärkte sich das Kribbeln. Zakaan stöhnte auf. Das Murmeln der Männer, die um ihn herum saßen, wurde lauter und dabei so eindringlich, als spürten sie, wie nahe er dem Übergang war. In Ermangelung von Trommeln begannen sie jetzt auf den Boden zu klopfen und mit den Füßen aufzustampfen.